Abstract
Moderne
Gerechtigkeitstheorien stellen sich in ihrem Ursprung als Antwort auf die
bestehenden Ungleichheiten dar. Auffällig ist dabei, dass dieser erste Impuls
sich auflöst, sobald die Philosophen mit der Erarbeitung von Theorien beginnen.
Es scheint, als ob die ungerechte Wirklichkeit nur der Motivation dient, aber
jegliches relevanten Inhalts für die theoretische Reflexion entbehrt. Ist eine
Vorstellung von Gerechtigkeit möglich, die in ihrer theoretischen Elaborierung
dem Initialmoment des empfundenen Unrechts treu bleibt, und die das Gefühl der
Empörung nicht aus den Augen verliert? Sie ist möglich, sofern wir zwischen
Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden wissen, sofern wir die anamnetische
Vernunft anrufen und die Theorie der Gerechtigkeit als eine Abhandlung der
Ungerechtigkeit verstehen.
Der italienische Jurist Gustavo Zagrebelsky unterscheidet
in seinem kurzen, aber substanzreichen Parcours durch die
Gerechtigkeitstheorien in La domanda de
guistuzia zwei mögliche Ansätze: einen spekulativen und einen erfahrenes Verfahren. Ersterer abstrahiert von
der Erfahrung, um die nötige Universalität jeglichen Begriffs von Gerechtigkeit
zu wahren. Eine ihres Namens würdige Gerechtigkeitstheorie muss demnach auf
abstrakter Ebene definieren, was gerecht ist, um daraufhin das Ungerechte zu behandeln.
Das „erfahrene Verfahren“ hingegen geht von der Erfahrung des Unrechts aus. Die
Gerechtigkeit wird auf die eine oder andere Weise eine Antwort auf das Unrecht
sein.
Verwiesen sei darauf, dass im Okzident das
abstrakte Verfahren überwogen hat. Bei Platon beispielsweise ist die
Gerechtigkeit ein Eidos, dem menschlichen Wissen vorgängig, das als
Orientierung dient, um über das Unrecht dieser Welt zu urteilen. Bei
Aristoteles ist die Gerechtigkeit eine aus der menschlichen Natur hervorgehende
Tugend, deren Auftrag ihre Vervollkommnung ist. Für die Moderne ist die
Gerechtigkeit Resultat eines deliberativen Prozesses, dessen Ziel es ist, das
Gerechte zu bestimmen.
Diese weit zurückreichende Art der Betrachtung
wurde bereits von Franz Rosenzweig („von Jonien bis Jena“, sagte er) als
idealistisch bezeichnet. Ihr unterliegt die Vorstellung, dass „die Wirklichkeit
zu denken“ gleichbedeutend ist mit „sich zu denken“. Die Gefahr ist dabei nicht
nur, die Wirklichkeit zu verkennen, sondern dass der Idealismus potenziell
totalitär ist. Tatsächlich hat die Wirklichkeit für den Idealismus nur einen
Wert, insofern sie erkennbar ist, das heißt als Brennstoff für das Wissen.