Abstract
Moderne
Gerechtigkeitstheorien stellen sich in ihrem Ursprung als Antwort auf die
bestehenden Ungleichheiten dar. Auffällig ist dabei, dass dieser erste Impuls
sich auflöst, sobald die Philosophen mit der Erarbeitung von Theorien beginnen.
Es scheint, als ob die ungerechte Wirklichkeit nur der Motivation dient, aber
jegliches relevanten Inhalts für die theoretische Reflexion entbehrt. Ist eine
Vorstellung von Gerechtigkeit möglich, die in ihrer theoretischen Elaborierung
dem Initialmoment des empfundenen Unrechts treu bleibt, und die das Gefühl der
Empörung nicht aus den Augen verliert? Sie ist möglich, sofern wir zwischen
Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden wissen, sofern wir die anamnetische
Vernunft anrufen und die Theorie der Gerechtigkeit als eine Abhandlung der
Ungerechtigkeit verstehen.
Der italienische Jurist Gustavo Zagrebelsky unterscheidet
in seinem kurzen, aber substanzreichen Parcours durch die
Gerechtigkeitstheorien in La domanda de
guistuzia zwei mögliche Ansätze: einen spekulativen und einen erfahrenes Verfahren. Ersterer abstrahiert von
der Erfahrung, um die nötige Universalität jeglichen Begriffs von Gerechtigkeit
zu wahren. Eine ihres Namens würdige Gerechtigkeitstheorie muss demnach auf
abstrakter Ebene definieren, was gerecht ist, um daraufhin das Ungerechte zu behandeln.
Das „erfahrene Verfahren“ hingegen geht von der Erfahrung des Unrechts aus. Die
Gerechtigkeit wird auf die eine oder andere Weise eine Antwort auf das Unrecht
sein.
Verwiesen sei darauf, dass im Okzident das
abstrakte Verfahren überwogen hat. Bei Platon beispielsweise ist die
Gerechtigkeit ein Eidos, dem menschlichen Wissen vorgängig, das als
Orientierung dient, um über das Unrecht dieser Welt zu urteilen. Bei
Aristoteles ist die Gerechtigkeit eine aus der menschlichen Natur hervorgehende
Tugend, deren Auftrag ihre Vervollkommnung ist. Für die Moderne ist die
Gerechtigkeit Resultat eines deliberativen Prozesses, dessen Ziel es ist, das
Gerechte zu bestimmen.
Diese weit zurückreichende Art der Betrachtung
wurde bereits von Franz Rosenzweig („von Jonien bis Jena“, sagte er) als
idealistisch bezeichnet. Ihr unterliegt die Vorstellung, dass „die Wirklichkeit
zu denken“ gleichbedeutend ist mit „sich zu denken“. Die Gefahr ist dabei nicht
nur, die Wirklichkeit zu verkennen, sondern dass der Idealismus potenziell
totalitär ist. Tatsächlich hat die Wirklichkeit für den Idealismus nur einen
Wert, insofern sie erkennbar ist, das heißt als Brennstoff für das Wissen.
Das Erkennbare an der Wirklichkeit, was wirklich
für das Wissen zählt, ist nicht die Gesamtheit der Wirklichkeit, sondern ein
Teil, den wir Essenz nennen. Das Wesentliche der Dinge ist, was wert ist,
gekannt zu werden. Die Operation, ein Element aus der reichen Wirklichkeit
auszuwählen und ihm die Kategorie des Wesentlichen zu verleihen, impliziert allerdings
die Missachtung aller anderen Elemente, die nun nur noch als „Unfälle“ gelten.
Rosenzweig zufolge handelt es sich dabei um einen totalitären Vorgang, denn
wenn wir zu sagen beginnen „alles ist Wasser“, wie Thales von Milet, so enden
wir eines Tages dort - wie tatsächlich passiert - , wo einer mit derselben
Logik sagt „alles ist Rasse“.
Kürzlich hat sich auch der renommierte Nobelpreis
für Ökonomie Amartya Sen den Kritikern der spekulativen Gerechtigkeitsidee mit
seinem Buch The Idea of Justice angeschlossen.
Seiner Grundthese zufolge kann nur ein erfahrungsbasierter Zugriff auf diese
Idee Geltung beanspruchen. Eine Theorie der Gerechtigkeit hat eine bescheidene
Antwort auf das Unrecht zu sein.
Wenn dem so ist, muss der Ursprung der
Gerechtigkeit in dem empörten Schrei „Dazu gibt es kein Recht!“ verortet
werden, das heißt, im Gefühl der Empörung gegenüber dem bestehenden Unrecht.
Wie bereits Adam Smith sagte gibt nicht die Vernunft den ersten Impuls in
Richtung Gerechtigkeit, sondern „die Sinne und die Gefühle“. Die Rede ist von
moralischen Gefühlen, also unmittelbaren Reaktionen auf das Unrecht, die sich
nicht in sich selbst erschöpfen, sondern die zur Reflexion einladen und a
posteriori reflektiert werden können.
Diese Auffassung soll nun im Einzelnen dargelegt
werden. Zunächst werde ich versuchen zu erklären, dass es im Verhandeln des
Ausgangspunktes (spekulative oder experientielle Methode) darum geht, die
Ungleichheiten als Ungerechtigkeiten charakterisieren zu können oder nicht. Es
ist nicht dasselbe, die sozialen Unterschiede zum Beispiel als Ungleichheiten
oder aber als Ungerechtigkeiten zu beschreiben. Wenn es nur Ungleichheiten
gibt, reicht eine distributive Gerechtigkeit aus; wenn es Ungerechtigkeiten
sind, ist eine universelle Gerechtigkeit sowohl aus räumlicher Sicht (globale
Gerechtigkeit) wie aus zeitlicher Sicht (anamnetische Gerechtigkeit)
unerlässlich. An zweiter Stelle möchte ich zeigen, dass die Konsequenz einer
spekulativen Auffassung die Invisibilisierung der Opfer ist, und damit dem
Gefühl der Empörung jegliche theoretische Bedeutung entzieht. Abschließend ist
darzulegen, dass die These vom Primat des moralischen Gefühls in der Behandlung
der Gerechtigkeit nicht so sehr zu einer neuen Gerechtigkeitstheorie als zu
einer Abhandlung über die Ungerechtigkeit führt.
1. Der ursprüngliche Irrtum
Diese Abhandlung oder Behandlung der
Ungerechtigkeit nähert sich der Gerechtigkeit, indem sie den Erfahrungen von
materieller Misere oder moralischer Demütigung Gehör schenkt, als ob sich das
Geheimnis der Gerechtigkeit im Leiden dieser Erfahrungen verbergen würde.
Niemand zweifelt daran, dass die Gerechtigkeit
eines der wichtigen Themen unserer Zeit bezeichnet. In Wahrheit ist sie das
immer gewesen, denn die Gerechtigkeit begleitet die Menschheit wie ein konstanter
Zeitgenosse. Der Mensch verabschiedet sich von der Animalität, aus der er
stammt, als die rohe Kraft des Einen, der sich gegenüber den Anderen behauptet,
ersetzt wird durch die Macht der Gemeinschaft, in der alle gleich sind. „Aut
lex aut vis valet“. Daher behauptet Freud, dass sich Kultur und Gerechtigkeit
im selben Moment ereignen. Die Gerechtigkeit ist da, im Aufgang menschlichen
Lebens, gar bevor moralische Anliegen aufzutreten beginnen.
Die Wichtigkeit des Themas erklärt den Aufruf-Effekt,
den sie auf die Philosophie, die Wissenschaft oder das politische Recht ausübt.
Die einschlägigen Schriften mehren sich exponentiell zum Verlauf der Zeit.
Wieso also dem noch etwas hinzufügen, wenn doch alles schon gesagt ist? Der
Rekurs auf den Kommentar oder die Scholastik ist immer möglich. Doch hätte ich
diesen Beitrag gar nicht begonnen, wenn es nur darum ginge, Kommentare zu
kommentieren oder darüber zu spekulieren, was die großen Namen schon gesagt
haben. Diesem Abenteuer liegt vielmehr die Intuition oder das Unbehagen an einem
ursprünglichen Irrtum zugrunde, der heute die Gerechtigkeitstheorien untergräbt
und darin besteht, Ungerechtigkeit mit Ungleichheit zu verwechseln. Die
Ungleichheit handelt von sozialen Differenzen, die da sind und das moderne moralische Bewusstsein angehen, weil es
niemand verdient, arm zu sein oder in einer Gesellschaft mit einer
unterdurchschnittlichen Lebenserwartung zu leben oder der nötigen Mittel zu
entbehren, um alle in einem angelegten Talente zu entfalten.
Die Ungerechtigkeit fügt der Ungleichkeit die Frage
der Schuld oder auch Verantwortung hinzu. Dies selbstverständlich nicht in dem
Sinne, dass der Arme Schuld an seiner Armut trägt. Die Schuld bezieht sich
vielmehr auf den Ursprung der Ungleichheit. Das Unrecht existiert nicht einfach wie Flüsse oder Gebirge, Produkte des
Zufalls, sondern wurde verursacht
und/oder ererbt vom Menschen. Deshalb ist das Unrecht bei dem, der es
produziert, an das Merkmal der Schuld gebunden; und bei dem, der es erbt, an
die Verantwortung. Es versteht sich von selbst, dass auch ein Element des
Zufalls mit in die Ungleichheiten hineinspielt,
aber das Beunruhigende an den Theorien der Gerechtigkeit ist, dass sie die
Voluntarität an diesen Ungleichheiten nicht bedenken; das heißt sie nehmen die
Ungerechtigkeit nicht wirklich ernst. Jede Überlegung über die Gerechtigkeit
ist ein Streifzug durch die Sphären der Humanität des Menschen. Francis Bacon
beginnt seine Überlegung im Entwurf eines Tractatus de Justitia
Universali mit dem
Ausspruch „in Societate Civili, aut Lex, aut Vis valet“: In der
Zivilgesellschaft herrscht entweder die Gerechtigkeit des Gesetzes oder die
Ungerechtigkeit der Macht. Die Gewalt der Ungerechtigkeit vermag sich entweder
brutal oder im Lammsfell verborgen, das heißt in Gesetzesform, präsentieren.(1)
Deshalb tritt die Gerechtigkeit erst am Ende eines Todeskampfes wie jener
zwischen Jakob und dem Engel in Erscheinung; und ebenso wie im genannten Fall geht
die siegreiche Gerechtigkeit hinkend aus ihm hervor. Zwischen Gerechtigkeit und
Menschheit besteht eine tiefe Verbindung, genauso wie zwischen Ungerechtigkeit
und Barbarei. Dies ist die angesprochene Intuition, auf der die hier dargelegte
Behandlung der Gerechtigkeit beruht.
Man kann nicht einfach außer Betracht lassen, dass
der ursprüngliche Irrtum, die Ungerechtigkeit mit reiner Ungleichheit zu
verwechseln, keine angemessene Aufmerksamkeit erfahren hat. Um dies zu
erklären, hilft uns möglicherweise die Überlegung, die Benjamin bezüglich des
Verbrechens anführt. Ihm zufolge gibt es um diesen einzigartigen Akt zwei Tode:
den physischen, der offensichtlich ist, und den hermeneutischen, der im
Verborgenen bleibt. Der Verbrecher tötet nicht nur, sondern er ruht auch nicht,
bis diesem Tod jegliche moralische Bedeutung entzogen ist. In den
Vernichtungslagern zum Beispiel wurde diese hermeneutische Strategie von den
Nazis praktiziert, indem die Opfer enthumanisiert wurden, als ob sie der
menschlichen Gattung nicht angehören würden. Aber soweit muss man gar nicht
gehen: Da ist der große Hegel der Geschichtsphilosophie, der sich fragt,
weshalb der Mensch Geschichte stets so macht, dass er sie in ein Schlachthaus
verwandelt. Die Antwort, die er darauf gibt, ist selbst das beste Beispiel der
hermeneutischen Invisibilisierung. In der Tat, so Hegel, muss die Menschheit
einige Blümchen am Wegesrand zertreten, um voranzuschreiten. Indem er die Opfer
zum unausweichlichen Preis des Fortschritts macht, begeht der Philosoph das
hermeneutische Verbrechen, mit dem er die Geschichte freispricht und die Kontinuität
der historischen Perversität garantiert. Was hier über Verbrecher gesagt wird,
lässt sich auch auf die Akteure des Unrechts übertragen. Die Akteure oder Vererber
des Unrechts haben Erklärungen für ihre Taten, die sie freisprechen sollen. Die
raffinierteste Form dieser Strategie ist die Umwandlung von Unrecht in
Ungleichheit. Nicht nur die Akteure des Verbrechens haben sich für diese Arbeit
der Invisibilisierung der Ungerechtigkeit verwandt. Die westliche Kultur hat
ebenfalls einen großzügigen Beitrag geleistet. Ich habe gerade auf die
Philosophie der Geschichte Bezug genommen; man könnte nun bei der Kunst
anknüpfen: den Bildern von Berruguete etwa, die Folteropfer der Inquisition mit
lächelndem Gesicht zeigen, als ob sie damit Torquemada Recht gäben, der sich
erlaubte „die Leiber zu töten um die Seelen zu retten“. Wir könnten mit der Ilias fortsetzen, die die Kriegswunden wie
Kunstwerke beschreibt, oder jener Literatur, die den Krieg als privilegierten
Ort preist, an dem die großen Tugenden des Menschen offengelegt werden. Manche
Denker, wie Rosenzweig oder Levinas, gehen noch weiter und entdecken im
griechischen logos eine Neigung zur
Rechtfertigung der Gewalt, indem die Erfahrungen von Leiden und Scheitern zur
Subkategorie der Unfälle degradiert werden und nur das für wesentlich erachtet
wird, was nicht stirbt und stets triumphiert.
All diese Strategien der Invisibilisierung der
Opfer der Geschichte wiegen schwer in der Verheimlichung des ursprünglichen
Irrtums. Daher gilt: Wenn wir auf diesem Gefälle nicht weiter gehen wollen,
muss die Rückkehr zum Ursprung der Gerechtigkeit initiiert werden. Dieser ist
ein abolitionistischer Begriff, was nichts anderes bedeutet, als dass seine
Daseinsberechtigung nicht etwa darin besteht, den Geist zu erhellen, sondern
seinem Gegenteil ein Ende zu machen, der Ungerechtigkeit. Der Ursprung der
Gerechtigkeit ist die Erfahrung von Unrecht.
Das war bereits in der Antike so. Aristoteles verband
die Moral als exemplarischer Vertreter griechischer Philosoph mit der
Tugendhaftigkeit. Als sein Lehrer Platon ihn fragt, ob es schwerwiegender sei,
Schaden zuzufügen als ihn zu erleiden, antwortet er mit ihm, dass ersteres schlimmer
sei, denn indem wir anderen Schaden zufügen, fügen wir ihn auch uns selbst zu:
Dies ist das schlimmste Übel, weil die Glückseligkeit daran gebunden ist, gut
zu sein. Alle aristotelischen Tugenden streben an, die eigene Vervollkommnung
zu erreichen - alle bis auf die Gerechtigkeit, die das Wohl des Anderen zum
Ziel hat. Genau das macht sie so einzigartig. In der Nikomachischen Ethik verkündet Aristoteles, die Gerechtigkeit sei
die wichtigste Tugend. In einem poetischen Anlauf schreibt er, sie sei so schön
„dass nicht der Abend- und nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt“(2). Ihre
Größe kommt daher, dass sie nicht auf das eigene Wohl bedacht ist, sondern sich
für die Anderen aufopfert. Und das sagt viel aus, denn so wie es kein schlimmeres
Subjekt gibt als jenes, das Anderen Schaden zufügt, gebe es keinen besseren
Menschen als jenen, „der seine Tugend nicht sowohl sich als anderen zugute
kommen lässt“, so Aristoteles.(3) Das ist wohlbekannt und Teil unserer Kultur. Sich
selbst und den Freunden wohl zu tun ist gut – in Maßen; aber vortrefflich ist
es, gut zu den Anderen, oder wie das Christentum es mit einer extravaganten
Geste will, gut „zu den Feinden“ zu sein. Aber Aristoteles will sich nicht von
solch heroischer Prosa hinreißen lassen, weshalb er nach dem leisen Hinweis auf
die Bedeutsamkeit einer Tugend, die das Wohl der Anderen sucht, im Modus einer
Warnung schreibt: „Denn dieses ist ein schweres Ding“. Tugendhaft zu sein ist
niemals einfach, aber gerecht zu sein ist wahrhaft schwierig. Bedenkt man, von
wem der Bescheid kommt, dann ist ihm umso mehr zu danken, weil er nicht nur
aufzeigt, wie schwierig es ist Gerechtigkeit zu praktizieren, sondern auch, sie
zu denken. Bei Aristoteles wird die Gerechtigkeit mit einer Reihe an Merkmalen
ausgestattet, die später großen Umlauf haben sollten. Sie ist an erster Stelle
materialistisch, weil das Gerechte seine Substanz darin hat, den zugefügten
Schaden wiedergutzumachen, und nicht darin - wie noch der Fall sein wird - zu
entscheiden, was gerecht ist. Entscheidend ist zweitens der Andere und was man
diesem Anderen schuldig ist, nicht, wie ebenfalls der Fall sein wird, das Wir,
der von uns gefällte Beschluss. Selbstverständlich – und das von Anfang an –
ist die Gerechtigkeit eine Tugend, und das heisst, dass sie auf Taten eines
Menschen bezogen ist, der auf sehr eigene Weise in ein bereits bestehendes Netz
oder auch in die Natur integriert ist, da „das Ganze und der Teil auf
irgendeine Weise dasselbe sind“. Das
Ganze oder Gemeinwohl, dem der Teil, der jeder von uns ist, sich verdankt, ist
weder die Gesellschaft noch der Staat, sondern die Art und Weise, sich mit Anderen
in Beziehung zu setzen. Jedes Individuum ist wie der Teil eines auseinandergebrochenen
Kruges, der sein Gegenstück sucht, um wieder ganz zu sein. Die Tugend ist
undenkbar ohne die Natur, und diese ist ebenfalls nichts ohne die Taten, die zu
ihrer Realisierung führen, indem sie sich von ihr inspirieren lassen.
Die Gerechtigkeit ist so schwer zu denken, dass
das Denken selbst dazu tendiert, sich dabei Fallen zu stellen. Man muss nur
jene Aufzeichnungen betrachten, in denen die Logik der Gerechtigkeit zu sehr
fordernden Schlussfolgerungen führt. Diese hatten nur eine kurze Laufzeit im
akademischen Bewusstsein und wurden rasch in freundlicheren und erträglicheren
Formen wiederverwertet. Im Laufe des hier gemeinten Werkes werden sehr volltönende
Fälle angeführt, aber um die Dinge zu beschleunigen, geben wir hier nur ein
Beispiel. Ich beziehe mich auf Werk und Begriff der „allgemeinen Gerechtigkeit“
bei Thomas von Aquin. Wenn wir heute von „der“ Gerechtigkeit sprechen, denken
wir an soziale Gerechtigkeit. Die soziale Gerechtigkeit ist vor allem eine
distributive Gerechtigkeit, an der es unserer Welt so fehlt. Nun denkt aber
Thomas von Aquin nicht an die Verteilung der Gerechtigkeit, wenn er die von
Aristoteles gemeinte Größe der Gerechtigkeit erklären will, sondern an die
Konstruktion des Gemeinwohls. Die Gerechtigkeit ist eine spezielle und höhere
Tugend, weil sie die gemeinschaftliche oder politische Dimension tugendhaften
Handelns betrifft: Bevor wir also von der ungleichen Aufteilung des Reichtums
sprechen, muss die Ungerechtigkeit erwähnt werden, nicht zur Schaffung des
Gemeinwohls beizutragen - dies passiert, wenn die Gemeinschaft ihrer Ressourcen
beraubt wird oder keine Bemühungen um die Entwicklung der Anderen erfolgen.
Kurioserweise ist diese „allgemeine Gerechtigkeit“ von der Landkarte verschwunden, als ob die
Gerechtigkeit nur mit der Verteilung des Gemeinwohls und nicht mit seiner Erzeugung
zu tun hätte.(4) Es ist in der Tat nicht dasselbe, die Gerechtigkeit als
gerechte Distribution gemeiner Güter zu verstehen, oder als eingeforderten
Beitrag aller zur Schaffung eben dieser Güter.
Diese Auffassung ändert sich radikal in der
Moderne. Die gerade erst eroberte Autonomie des Subjekts toleriert keine so schlagenden
Konditionierungen wie in den Inhalten von Begriffen wie Natur oder Gemeinwohl
enthalten, die der antiken Theorie der Tugenden als Rahmen dienen.
Es ist das Subjekt, welches auf Basis seiner
Autonomie entscheidet, was gut und gerecht ist. Das moderne Subjekt deklariert
sich zuständig für die Konstruktion von Moral und Politik, ohne andere Bedingungen
denn seine Freiheit. Das bedeutet nicht, dass gut oder gerecht ist, was und wie
es ihm gerade passt. Die freie Entscheidung erreicht erst dann die Ebene des
Gerechten, wenn Autonomie sich mit Universalität verbindet, wenn also das, was
ich für mich als gerecht betrachte, dies auch für die Anderen ist. Diese Auffassung
hat gerade deshalb tönerne Füsse, weil sie in der Präsenz der Universalität
wurzelt. Solange ich es bin, der im Namen aller denkt, was gut ist und was
nicht, ist sie schwerlich ernst du nehmen. Daher gibt es immer wieder Versuche,
eine Universalität zu denken, die mit Autonomie zu versöhnen ist. Die mögliche
Lösung, auf die der Neukantianer Hermann Cohen abzielt, und die später von John
Rawls und Jürgen Habermas perfektioniert wird, besteht darin, die Entscheidung
zu kollektivieren: Entscheiden sollen bei Rawls alle Betroffenen, oder die
ganze Menschheit, bei Habermas! Damit die Deliberation nicht zu einem unkoordinierten
Konzert unzähliger Stimmen gerät, müssen alle so unvoreingenommen wie möglich
entscheiden, das heißt von ihren Interessen oder Erfahrungen abstrahieren. Da
ein solcher Verzicht aber undenkbar ist, solange es Leben gibt, erfinden die
genannten Autoren ein Experiment, bei dem die Menschen in der Fiktion auf etwas
verzichten, auf das sie in der Wirklichkeit gar nicht verzichten könnten. Aus
diesem Experiment würden als Konsens die Grundsätze der Gerechtigkeit (im Falle
Rawls’) bzw. eine rationale Form der Debatte hervorgehen, die dem
vernünftigsten und damit dem von allen meist akzeptierten Argument Recht geben
würde (im Falle Habermas’). Die Visitenkarte dieser neuen
Gerechtigkeitstheoretiker basiert sich auf unserem Leben in einer pluralen und
deutlich komplexer gewordenen Gesellschaft. An Stelle jener gemeinen Kultur,
die von Natur oder Gemeinwohl sprach, befinden wir uns in einer Gesellschaft,
deren Epizentrum die Autonomie des Subjekts ist, und damit eine Pluralität an
Weltanschauungen und Projekten des „richtigen“ Lebens, die zunächst einmal
respektiert und anerkannt werden müssen. Dies betrifft die Gerechtigkeit
deshalb, weil das an die Idee der Gleichheit gebundene Gerechte eine den
genannten Differenzen übergeordnete Ebene finden muss. Diese höhere Ebene ist
die Vorgehensweise, Beschlüsse zu treffen. Auf ihr können wir uns einigen oder,
noch besser, auf ihr könnten wir uns ein Verfahren vorstellen, dass das besagte
Einverständnis ermöglicht.
Niemandem kann entgehen, dass diese Art der
Behandlung der Gerechtigkeit wenig oder nichts mit jener der Antike zu tun hat:
Erstens wird hier die Betonung auf die Freiheit gelegt und nicht auf das Brot,
so dass das Gerechte mit der Möglichkeit assoziiert wird, gleichberechtigt freie
und unabhängige Beschlüsse zu treffen, und nicht mit der Wiedergutmachung
zugefügten Schadens. Zweitens wird der Andere durch das Wir ersetzt, so dass
die Gerechtigkeit an Stelle einer Antwort auf die Frage dessen, der das Unrecht
erlitten hat, mit dem kollektiven Beschluss als Kriterium des Gerechten
verknüpft wird. Auch ist eine Verschiebung der Achse der Gerechtigkeit zu
beobachten: von der Schaffung von Gemeinwohl zu dessen Aufteilung, das heißt
der Begriff allgemeiner Gerechtigkeit verschwindet zugunsten der distributiven
Gerechtigkeit. Wie man sehen kann muss für dieses neue Produkt ein hoher Preis
gezahlt werden, den die immense Mehrheit ihrer Anhänger in bar begleicht,
überzeugt davon, dass die strikten Forderungen der antiken Gerechtigkeit nicht
mehr als eine Fußnote verdienen.
Die sogenannten Verfahrenstheorien hatten immensen
Erfolg. Jahrzehntelang konnte man ob in Berlín oder Barranquilla, im Dschungel
von Lacandona oder in Madrid, dieselbe Musik hören, geschrieben von denselben
Autoren und gespielt von Philosophen, Soziologen oder Politologen jeglicher
Couleur und Kondition. Um die Hegemonie dieser Gerechtigkeitstheorien zu
besiegeln, bringen ihre Sprecher eine klärende Unterscheidung zwischen dem Gerechten und dem Guten vor. Der Terminus gerecht
vereinnahmt alle Gesichtspunkte der modernen Gerechtigkeitstheorie, da er sich
als Verkörperung einer Vorstellung von Gerechtigkeit präsentiert, die für jedes
Vernunftwesen unabhängig von seinen Interessen oder kulturellen Traditionen
annehmbar ist. Die mit dem Stempel des Gerechten
gekennzeichneten Theorien sollen auf Prinzipien basieren, die jeder
unterschreiben könnte, sofern es darum geht, nicht die eigenen Interessen zu
beurteilen, sondern die von jedwedem, und dies dabei aus tiefster Überzeugung
geschieht. Gerecht zu sein ist
gleichbedeutend mit Unvoreingenommenheit und Universalität, wie sie auf der Höhe
unserer pluralen Gesellschaften sind. Zweifellos ist unsere Gesellschaft plural
hinsichtlich der Vorstellung, die sich jeder von Gerechtigkeit macht: Für die
einen bedeutet es, dem Koran zu folgen, für die anderen, dem Nazarener. Es gibt
in diesen Fällen keine unanfechtbare Definition dessen, was gerecht ist. Sie
ist abhängig von der Vorstellung der Welt, innerhalb derer sie geäußert wird.
Daher stimmt das Gerechte in einer vom Klassenkampf geprägten Weltsicht nicht
überein mit dem, was aus einer anderen, etwa aus einer nationalistisch oder
ethnizistisch gefärbten Weltsicht heraus dafür gehalten wird. Für
Gerechtigkeitsdiskurse, die die Armut des Armen berücksichtigen, ist Stehlen um
zu essen kein Delikt, während es hier für das bürgerliche Recht keine
Entschuldigung gibt.(5) Die Frage ist also: Wie können Doktrinen mit
universellem Gültigkeitsanspruch, die sich untereinander frontal
gegenüberstehen, koexistieren und gemeinsame Spielregeln finden, die einerseits
die unterschiedlichen Versionen des für gerecht Gehaltenen der Einen wie der Anderen
gewährleisten, und die sich andererseits aber die Entscheidung darüber aneignen,
was gerecht sein soll? Die Antwort liegt in der Unterscheidung zwischem dem Guten und dem Gerechten, indem man im Guten
die Partikularansichten über Gerechtigkeit verortet und im Gerechten die gemeinsamen Regeln. Im modernen Haus des Gerechten haben alle Konzeptionen des Guten Platz, obwohl sich unter der
bescheidenen Rubrik des Guten einst
so erfolgreiche Gerechtigkeitstheorien wie die aristotelische oder die
thomistische verbergen.
2.
Vae Victis.
Dennoch hat es auch nicht an kritischen Stimmen
gefehlt, die ausgehend von anderen Traditionen versuchten, die deliberative oder
Verfahrenshegemonie mit gewichtigen Argumenten zu bekämpfen.
a) Luis Villoro zum Beispiel, vielleicht
der bedeutendste spanischsprachige politische Philosoph der Gegenwart, kontrastiert
zwei zeitgenössische Ansätze des Gerechtigkeitsbegriffs. Auf der einen Seiten
einen Theorietypus, der „von der Idee eines rationalen Konsenses unter
gleichberechtigten Subjekten auszugehen pflegt, die sich in Beziehung
zueinander setzen, um die Wesenszüge einer wohlgeordneten Demokratie zu
reproduzieren“(6); und auf der anderen
Seite einen Theorietypus, der „anstatt von einem Konsens zur Fundierung der
Gerechtigkeit auszugehen, von dessen Abwesenheit ausgeht, und anstatt von der
Bestimmung universeller Gerechtigkeitsgrundsätze zu ihrer Verwirklichung in
einer spezifischen Gesellschaft zu schreiten, von der Wahrnehmung realen Unrechts
ausgeht, um zu überlegen, wie dieses behoben werden könnte“(7).
Zwei Arten, sich der Gerechtigkeit zu nähern: als
rationalem Konsens oder als Antwort auf Unrecht. Wir befinden uns nicht vor
unterschiedlichen Tellern, von denen sich jeder willkürlich bedienen kann,
sondern vor verorteten Theorien, das
heißt vor Fragestellungen, die spezifischen historischen Kontexten angehören.
Die Gerechtigkeit als rationaler Konsens wäre den entwickelten Gesellschaften
eigen, die als inakzeptabl empfundene Schwellen des Elends überwunden und
despotische Formen der Herrschaft abgeschüttelt haben. Nicht umsonst haben
diese Theorien des Konsenses ihren Ursprung im reichen Westen nach dem Zweiten
Weltkrieg. Aber die Welt endet hier nicht. Dieser entwickelte Westen
koexistiert mit Gesellschaften in Entwicklung, innerhalb wie außerhalb
desselben, in denen eine extreme und wachsende soziale Ungleichheit herrscht. Der
Ausschluss großer Menschenmassen vom ökonomischen Profit und die Ausgrenzung
von politischen Beschlüssen ist in ihnen vorherrschend. Das Nachdenken über die
Gerechtigkeit kann in diesem Kontext nicht im Zeichen des Konsenses geschehen,
da die sozialen und politischen Voraussetzungen für eine gemeinsame Sprache fehlen,
sondern nur als stumme Mahnung ausgehend von der Erfahrung des Unrechts. Wer Unrecht
erfährt, entwirft keine Konsense, sondern fordert Antworten.
b) Jean-François Lyotard seinerseits verweigert
sich jener Art von Experimenten, deren Realisierbarkeit davon abhängt, von den
uns betreffenden Konflikten zu abstrahieren. Die Gerechtigkeit ist ebenso wie
das Recht undenkbar ohne den Konflikt; von ihr wird erwartet, dass sie jedem
das Seine zu geben weiß. Nun muss man aber – und hier liegt der markanteste Aspekt
von Lyotards Beitrag – zwischen zwei Arten von Konflikten unterscheiden, die
radikal verschieden sind: dem Rechtsstreit und dem „différend“. Die Rede ist
vom Rechtsstreit, wenn angesichts eines ein Unrecht aufwerfenden Konflikts eine
gemeinsame Sprache zwischen den beteiligten Parteien besteht, akzeptierte
Regeln, die es erlauben, dem Anderen einen Fehler zur Last zu legen und diesem,
sich zu verteidigen. Es handelt sich dabei um intrasystemische Konflikte. Den
Terminus „différend“ behält sich der Autor für jene Konflikte vor, in denen der
Unrecht Erleidende der Mittel entbehrt, sich durchzusetzen, und damit auf den
Zustand des Opfers zurückgesetzt wird. Dies geschieht, wenn das Reglement des
Konflikts, das beide opponiert, in der Sprache einer der Parteien abgefasst
wurde und es damit dem Schaden, den der Andere erleidet, in dieser
reglementierten Sprache an Bedeutsamkeit mangelt(8).
Im Falle eines „différend“ ist keine Vermittlung
zwischen den Parteien möglich, denn was für eine von Bedeutung ist, ist
bedeutungslos für die andere. Da die Bedeutungen von der dominanten Partei mit
universellem Gültigkeitsanspruch etabliert werden, könnte es scheinen, als ob
das solcherart von dieser als gerecht oder gesetzt Etablierte für alle
nachvollziehbar ist. Aber die Stummheit der Opfer darf nicht mit der von den
Herrschenden eingerichteten Bedeutungshegemonie oder der vorherrschenden
Bedeutung verwechselt werden. Ein klarer Fall solcher Verwirrung kann in der
sozialen Wahrnehmung der Sklaverei beobachtet werden. Deren Bewertung in der
zivilisierten Welt – die Abscheu, die uns dieses langlebige historische
Phänomen einflößt – wurde von den Abolitionisten durchgesetzt, also von jenen
unter uns, die anstatt die Familientradition des Sklavenhandels weiterzuführen,
gegen sie rebelliert haben, sie angeprangert und bekämpft haben bis zu ihrer
Abschaffung. Aber dieser verdienstvolle Diskurs verbirgt das Wesentliche,
nämlich die Bewertung der Sklaverei durch die Sklaven selbst. Zwischen der
Erfahrung des Sklaven und den abolitionistischen Praktiken verläuft ein
Abgrund, ein „différend“, da beide nicht miteinander verbundene Sprachen
sprechen, denn nur die des Abolitionisten gilt, die aber als Sprache die
gleiche wie die der Befürworter des Sklavenhandels ist.
Lyotard nennt Auschwitz und den Klassenkampf als
Konfliktfälle im Zeichen eines „différend“. Auschwitz ist ein klares Beispiel
des Undenkbaren, und das heißt des Abstandes zwischen dem Denkbaren und dem
Stattgefundenen. Dieses Ereignis wurde nicht gedacht, weil es undenkbar war: Die
aus der Geschichte der (Un-) Menschlichkeit bekannten Typen des Bösen erfassen
es alle nicht. Dennoch hat es stattgefunden. Dieser Abgrund zwischen dem
Undenkbaren und dem Stattgefundenen, dem Ereignis, stellt das Denken vor eine riesige
Herausforderung, die es sich zu eigen machen muss, will es nicht zu einer
unbedeutenden Tätigkeit verkommen. Das Prestige des logos hängt davon ab, wie es auf diese Herausforderung antwortet.
Der andere Fall bezieht sich auf den Klassenkampf, auf die Tatsache einer
Gesellschaft - der bürgerlichen - die das Monopol der Sprache hat und den
Arbeiter in seinen Konflikten mit dem Kapital zwingt, sich genau dieses
Instrumentes zu bedienen oder im Abseits zu bleiben. Das Kapital sagt ihm, er
sei ein freies Wesen, das seine Arbeitskraft nach freiem Willen verleiht. Was
ihm davon ausgehend geschieht, mag ihm mehr oder weniger gefallen, aber es war
von ihm gewollt. Der Arbeiter findet keinen Weg verständlich zu machen, dass er
arbeitet um zu leben und lebt um zu arbeiten. Juristisch gesehen ist seine
Situation nicht die des Sklavens, in materieller Hinsicht sehr wohl. Das
bürgerliche Sprachmonopol erlaubt dem Arbeiter aufgrund eines uneinholbaren „différend“(9)
zwischem ihm und dem Kapitalisten nicht, sich auf eigene Weise auszudrücken.
Aus Lyotards Theorie lässt sich ableiten, dass es Formen der Ungerechtigkeit
gibt, die eine konsensuelle Antwort zulassen, weil sie in einer gemeinsamen
Sprache verbalisiert werden, und andere, die keine Antwort haben, weil ihre
Maßstäbe inkommensurabel sind. In diesem Fall kann die Antwort auf das
Undenkbare, das stattgefunden hat, nicht aus der Ordnung des Konsenses oder
Verstehens stammen, sondern es muss akzeptiert werden, dass dieses Undenkbare,
das stattgefunden hat, gerade das ist, was zu denken gibt.
c)Auch gibt es Ansätze, die ohne direkt gegen die
Befürworter des Konsenses oder des Diskurses zu polemisieren, die Singularität
auf eine Weise hervorheben, die jegliche auf Abstrahierung von dem durch das
Subjekt Erlebten und Erlittenen gestützte Theorie für nichtig erklären. Diese
Reklamierung des Singulären wurde in der Polemik mit philosophischen Ansätzen
gestärkt, die die Geschichte zum Weltgericht erklären. Ein treuer Exponent ist Enmanuel
Levinas, für den „Judesein nicht so sehr darin besteht, an Moses und die
Propheten zu glauben, als das Recht zu reklamieren, über die Geschichte zu urteilen,
also den Platz eines sich bedingungslos behauptenden Gewissens zu reklamieren“(10).
Entweder ist die Geschichte das Höchste Gericht der Gerechtigkeit, oder es ist
das Gewissen des Einzelnen. Im ersten Fall urteilt die Geschichte über das behauptete
Unrecht, das die Individuen bedrückt; im zweiten Fall ist es das vom Einzelnen
erlittene Unrecht, das über Sinn oder Unsinn der großen Geschichte urteilt. Es
handelt sich um zwei unterschiedliche Fokussierungen der Gerechtigkeit, eine
von Athen inspiriert, die andere von Jerusalem. Ein guter Vertreter der an
Athen orientierten Denkweise ist Hegel. Von Schelling übernimmt er die These
von der „Weltgeschichte als Weltgericht“. Der Sinn dessen, was jedem Individuum
geschieht, ist Angelegenheit der Weltgeschichte. In dem Überblick, den Hegel
von den Wegen des Menschen durch die Welt gibt, beobachtet er mit Entsetzen,
dass dieser die Geschichte in eine große Schlachtbank verwandelt habe, und
fragt sich nach dem Endzweck des vielen Leidens. Seine Benommenheit dauert
nicht länger als einen Augenblick, bis er eine beruhigende Erklärung findet:
Das Opfer (des Individuums) trägt in substantieller Beziehung zum Zusammenhalt aller
bei. Und weiter: Die wahre Courage eines zivilisierten Volkes bestehe darin,
für das Opfer des Staatsdienstes bereit zu sein, so dass das Individuum nur
eines unter vielen darstelle. Nicht der persönliche Mut sei entscheidend,
sondern die Unterordnung unter das Universelle.(11). Das Opfer des Einzelnen
wird hier mit den Anforderungen des Drehbuchs erklärt. Im Wohle aller gewinnt
die individuelle Tragödie an Bedeutung. Das Ganze stirbt nicht. Die
individuelle Negativität gewinnt im universellen Wohl seinen Sinn. Nietzsche
schreitet denselben Weg ab, indem er erklärt, dass die Schönheit des Naturbildes
Leiden und Freude benötigt. So empfiehlt er, zwischen Dionysos und Christus zu
wählen, das Leiden entweder als Teil der Landschaft zu betrachten oder als
Skandal. Er selbst tendierte zu den Bacchanalien.
Die westliche Politikwissenschaft ist Hegel
gefolgt, allerdings unter dem Vorbehalt, lieber vom Staat oder Staaten zu
sprechen anstatt von etwas so Nebulösem wie der Weltgeschichte. Der Staat ist
bekanntlich ein großes Thema in der westlichen Philosophie, die ihn als
wichtigste politische Erfindung schätzt und ihn deshalb mit dem Titel einer
„ethischen Totalität“ auszeichnet. Dank dieser moralischen Autorität
rechtfertigt der Staat das Opfer der Individuen und die Gewalt gegen andere
Staaten. Für die Tradition, aus der Levinas oder Rosenzweig hervorgehen, sieht
die Bewertung hingegen anders aus. Die Politik schmiedet im Staat unweigerlich
Allianzen mit der Gewalt. Tatsächlich gibt es keinen Staat ohne Recht, und dieses
verwandelt einen Moment aus dem Leben eines Volkes in Norm. Wo ist da
die Gewalt? Im Anhalten und
Rückstellen der Zeit, der ihr eigenes Dahinfließen versagt wird. Die Eigenart
des Gesetzes ist es, einen Moment zu verabsolutieren aus dem Fluß des Lebens
eines Volkes, in dem die Bräuche sich ständig entwickeln und die Gesetze sich
verändern, so Rosenzweig.(12). Das Leben eines Volkes ist konstante Innovation
seiner Bräuche und Gesetze, aber das Recht macht aus einem Augenblick der Zeit
zeitlose Norm. Benjamin baute diese Idee weiter aus, in der Annahme, dass das
Recht auf Gewalt gründe und sich dank dieser halte.(13)
Der Staat impliziert folglich ein Attentat auf die
lebendige Zeit einer Gesellschaft, die nun paralysiert wird. Wer aber von dieser
Gewalt erreicht wird, ist das Individuum in seiner Singularität. Ein Attentat
also gegen die Zeit und den Anderen: Der Unterschied zwischen dem alten und dem
neuen Denken besteht Rosenzweig zufolge darin, den Anderen zu benötigen und,
was dasselbe ist, die Zeit ernst zu nehmen.(14) Die tote oder paralysierte Zeit
des Staates bedeutet die Negierung des Anderen, weil nur die lebendige Zeit die
Idee der Neuheit in sich trägt. Man kann von Zeit sprechen, wenn die Zukunft
nicht nur mehr des immer Gleichen ist, also Wiederholung, ewige Wiederkehr des
Gleichen. Wer nun aber die Zeit aus ihrer Benommenheit reißt, ist die Präsenz
des Anderen, die das Kontinuum der Zeit unterbricht. Wenn der Andere uns fragt:
wo bist du?, beginnt Geschichte und endet die Natur, weil der Gefragte sich
seiner Situation bewusst wird und Subjekt seines Schicksals sein will.
Und welchen Bezng hat all dies zur Gerechtigkeit? Für
Rosenzweig ist das Urteil der Geschichte über den Einzelnen ungerecht, weil es
das konkrete Unrecht dem Interesse des Ganzen – nennen wir es Staat, Geschichte
oder Menschheit – unterordnet. Die Geschichte als Gericht hat nur Augen für die
Sieger. Vae Victis! Die Reklamierung des Einzelnen impliziert nicht, auf die Forderungen
nach Universalität der Gerechtigkeit zu verzichten, aber es handelt sich um
eine Universalität, die auf Kosten des vom Einzelnen erfahrenen Unrechts weder
gedacht noch realisiert werden kann, denn wenn dies geschieht, wird die
Gerechtigkeit zur Rechtfertigung einer Geschichte, die triumphierend über Opfer
hinweg schreitet.
3. Primat des Gefühls von Unrecht
Die Mahnung bei Luis Villoro, das „différend“ bei Lyotard oder der Einzelne
bei Rosenzweig sind Figuren des Widerstands gegen die Hegemonie des Konsenses
oder des Diskurses. Es ist jedoch zwingend anzuerkennen, dass der Angriff auf
die Festung der modernen Verfahrenstheorien der Gerechtigkeit aus den eigenen
Reihen kommt. Es handelt sich, so kann man sagen, um durch „freundliches Feuer“ produzierte Verluste. Der
Nobelpreis für Ökonomie, Amartya Sen, verwendet sich in einem John Rawls
gewidmeten Buch mit beneidenswertem Eifer darauf, die Säulen zu sprengen, auf
denen das Prestige des Autors der Theorie
der Gerechtigkeit beruht.
Er beklagt von Anfang an die Unmöglichkeit und
Nutzlosigkeit einer „transzendentalen“ Theorie der Gerechtigkeit wie der von
Rawls; ausgerichtet darauf, einen reinen Gerechtigkeitsbegriff zu elaborieren,
der als Orientierung für politische Institutionen dienen könnte. Sen ist es
darum getan, Gründe zu finden, die uns gegen das Unrecht dieser Welt
mobilisieren. Von stärker operativer Ausrichtung als die mögliche „Lösung“ oder
einzige Erklärung dessen, was Gerechtigkeit ist, ist das bescheidene Eingeständnis,
dass es verschiedene Gründe geben kann um beispielweise den Krieg zu bekämpfen.
Hierfür führt er den Fall der Opposition gegen den Irak-Krieg an. Viele Gründe
wurden im Kontext der Aussprache gegen den Krieg genannt (wenig oder schlechte
Information, keine Beweise für Massenvernichtungswaffen, fehlendes UNO-Mandat,
etc.), und alle waren gültig. Sen empfindet sich wie Rawls als Erbe der
Aufklärung, aber beruft sich auf eine andere Tradition: anstelle des sich auf
der Suche nach dem reinen Begriff des Gerechten befindenden Kontraktualismus
von Rousseau und Kant, die von Adam Smith und Stuart Mill ausgehende Linie, die
die Welt weniger unvollkommen machen will.
Indem Sen die „einzige Lösung“ der Theorie Rawls’ anprangert,
verweist er auch auf die Obsession um den „begründeten Konsens“, auf dessen
Basis die (zwei) Grundsätze der Gerechtigkeitstheorie entschieden werden. Sen zweifelt
an dieser Möglichkeit, das heißt er zweifelt an, dass das Experiment, dem Rawls
uns unterzieht, diese Resultate hervorbringen könnte.(15) Sen denkt im Einklang
mit den Annahmen seiner „Theorie der sozialen Wahl“ (Sen, 2009,125), dass die
Dinge auf andere Weise funktionieren. Zur Erklärung führt er das Beispiel
dreier Kinder an, die sich um eine Flöte streiten. Anna will sie behalten, weil
sie sie zu spielen weiß; Bob, weil er arm ist und keine anderen Spielzeuge besitzt;
Carla, weil sie sie selbst gemacht hat. Drei unterschiedliche, solide Gründe,
die man keinesfalls auf einen reduzieren könnte: Annas Grund ist für den
Utilitarismus ein gerechter Grund; ebenso wie Bobs für den Egalitaristen oder
Carlas für den Kommunisten. Jeder hat einen Grund, der innerhalb seiner
ideologischen Welt gerecht ist. Rawls’ Erfindung funktioniert also nicht (Sen,
2009, 47).
Mit einer anderen Reihe an Argumenten kritisiert
er den Platz, den bei Rawls die Institution einnimmt. Wenn die erste Figur der
Gerechtigkeit bei Aristoteles der gerechte Mensch war, ist sie dort die
Institution. Wichtig ist das gerechte Funktionieren der Verwaltung. Rawls
gesteht den individuellen Verhaltensweisen so wenig Bedeutung zu, weil er naiverweise
glaubt, dass wenn die Institutionen korrekt funktionieren, dies auch die
Individuen gelten wird. Die am Experiment beteiligten Individuen scheinen
demnach ihr Verhalten außerhalb desselben auf mechanische Weise mit den dort
beschlossenen Grundsätzen der Gerechtigkeit rückzukoppeln (Sen, 2009, 90). Für
Sen aber sind die Individuen im Kampf gegen das Unrecht fundamental. Ihm ist
wichtig, ihre moralische Fragilität, ihre physische und mentale Kapazität und ihr
Eingebundensein in Entscheidungen mit einzubeziehen, um ihren Grad an
Verantwortung zu messen.
Auch Rawls’ Provinzialismus entkommt seiner Kritik
nicht. Die Grundsätze der Gerechtigkeit nach Rawls gelten für die Teilnehmenden
am Experiment, die ja nicht alle sind. Das Experiment, und das bedeutet die
Deliberationen im Urzustand, konzentriert sich auf jene Beteiligten, die „in
der Gesellschaft geboren sind, in der sie leben“ (Sen, 2009, 156), das heißt
sie reduzieren sich auf den Staat, in dem man lebt. Wenn das Experiment eine
Fiktion ist, die nie realisiert werden kann, wieso sollte man es aber nicht auf
die Gesamtheit der Nationen oder die menschliche Gattung ausweiten? Der
angestrebte Konsens wäre nicht in Gefahr, da alle Teilnehmer bereits an der
Schwelle zu diesem utopischen Ort ihre Differenzen hinsichtlich Erfahrungen
oder Weltanschauungen, die zum Scheitern des Experiments führen könnten,
ablegen müssten.
Sens Schlussfolgerung lässt keinen Zweifel: Die
Frage nach der gerechten Gesellschaft sei kein guter Ausgangspunkt für eine brauchbare
Gerechtigkeitstheorie. Auch sei sie möglicherweise kein gutes Ankunftsziel (Sen,
2009,135).
Die Kritikpunkte von Amartya Sen sind, da sie –
wie van Parijs sagen würde – aus den Reihen des Liberalismus stammen, gegen die
Strömungsrichtung der kontraktualistischen Tradition lancierte Torpedos, aber
lösen sie den ursprünglichen Irrtum, das heißt verstehen sie die Ungleichheiten
als Ungerechtigkeiten? Obwohl es durchaus Vorstöße gibt, scheint dies nicht der
Fall zu sein. Angesichts des unantastbaren Primats der Freiheit bei Rawls fragt
sich Sen, „wieso sollten wir Hunger, Unterernährung oder fehlende medizinische
Versorgung als weniger wichtig betrachten denn die Verletzung jeglicher Form
der persönlichen Freiheit?“ (Sen, 2009, 94). Er setzt das tägliche Brot auf derselben
Ebene wie die Freiheit an. Damit nun aber die materiellen Ungleichheiten wie
Ungerechtigkeiten behandelt werden können, ist nach ihrem Ursprung zu fahnden,
so dass man, wie Rousseau es tat, zurückgehen müsste zum Ursprung der Ungleichheit. Die Überraschung fällt alles andere als
klein aus. Der Kritiker des „Schleiers des Nichtwissens“ aus dem Rawls’schen
Experiments, überzeugt von der vitalen Relevanz von Elends- und
Unrechtserfahrungen für seine Vorstellung von Gerechtigkeit, lässt dennoch zu,
dass wir wegschauen, wenn es um den Ursprung der Ungleichheiten geht. Es stimmt
zwar, dass Sen im Unterschied zu Rawls offen von Ungerechtigkeiten spricht,
doch nimmt er sie letztlich nicht ernst, da er es kurioserweise vermeidet, nach
ihrem Ursprung zu fragen. Ganz im Gegenteil: An einer Schlüsselstelle seines
Diskurses macht er sich Rawls’ Vorschlag zu eigen, im Namen der Unvoreingenommenheit
zu verzichen auf aus der Vergangenheit stammende kontingente Vorteile und
zufällige Einflüsse.(16) Der unmittelbare Kontext dieser Einladung zum
Vergessen der Vergangenheit mag im freundlichen Licht erscheinen, da sie an die
Reichsten und Mächtigsten gerichtet ist. Ihnen wird nahe gelegt, aus ihrem
Vorteil keinen Profit zu schlagen. Aber wer diesen Vorschlag bezahlt, ist das Opfer, von dem verlangt
wird, das ihm Angetane zu vergessen. Wenn der Verzicht der Reichen, von ihrer
Situation zu profitieren, als großzügige Tugend angesehen wird, so deshalb,
weil an keiner Stelle Reichtum mit Ungerechtigkeit assoziiert wird. Die Vergangenheit
muss daher im Abseits bleiben. Praktisch gesehen bleibt es sich gleich, den
Ursprung der bestehenden Ungleichheiten für ein Produkt des Zufalls zu halten
(Rawls’ Theorie), oder sich erst gar nicht nach der Vergangenheit zu befragen.
Von Bedeutung ist nur die sich als unabwendbar darstellende Gegenwart. Da wäre
es zu empfehlen, das Beispiel des Quijote zu beachten, der als herumirrender
Ritter im Laufe seiner lebenslangen Suche nach einem Schatten von Fortuna seinem
Begleiter Sancho schließlich gesteht, dass es kein Glück gebe in der Welt. Jeder
ist selbst seines Glückes Schmied. Die
Freiheit kann nicht zum Schlussstein der liberalen Gerechtigkeitstheorien aufgebaut
werden, wenn nicht zugleich das Gewicht der Freiheit in der Konstruktion der
historischen Ungleichheiten bedacht wird.
Es haftet etwas Paradoxes am Freiheitsverständnis
der Liberalen. Einerseits ist es das erste Prinzip, um das sich im Urzustand
ein Konsens herausschält. Nicht eine einzige Maßnahme zur Bekämpfung des Unrechts
darf auch nur die geringste Einschränkung des Gebrauchs der Freiheit bedeuten. Gerade
deshalb fällt auf, dass keine detaillierte Untersuchung des Gebrauchs oder der
Geschichte dieser Freiheit erfolgt. Es stimmt, dass um sie gekämpft, für sie
gelitten und gestorben wurde; aber in ihrem Namen wurden auch viele Gewalttaten
begangen. Wie Rousseau richtig erkennt, hat der Ursprung der Ungleichheiten seine
tiefste Wurzel in der Freiheit. Wieso sollte man diese Tatsache nicht
anerkennen; und dies nicht um sie zu diskreditieren, sondern um ihre
Konsequenzen anzunehmen? Indem er seine theoretische Strategie auf das
Verhalten der Individuen und nicht mehr der Verwaltungsmaßstäbe ausrichtet, ist
Sen zwar wirklich gezwungen, das Thema der Verantwortung aufzuwerfen; aber es
handelt sich um eine Verantwortung, die zur Seite und nach vorne schaut, nicht
jedoch nach hinten. Wie andere moderne Theoretiker der Gerechtigkeit zuckt er
angesichts des - vergangenen, ja, aber doch weiter vererbten - Unrechts mit den
Schultern. Für Sen spricht seine feste Entschlossenheit, das moralische Gefühl
der Entrüstung oder des Mitleids als Auslöser seiner Vorstellung von
Gerechtigkeit zu betrachten. Dies bezeugt der bevorzugte Platz, den Adam Smith
in seinem Werk einnimmt. Die erste Wahrnehmung des Gerechten und Ungerechten,
so Smith, könne nicht Gegenstand der Vernunft, wohl aber der Sinne und Gefühle
sein. Natürlich müssen diese Gefühle das Sieb der Vernunft passieren, um die
gerade auf solch vitale Gefühle lauernden Fallen zu vermeiden. Es kann sich trotz
Kant nicht um die individuelle Vernunft handeln, sondern nur um die
deliberative und damit kollektive Vernunft. Öffentliches Argumentieren
konstituiert eine wesentliche Charakteristik der Objektivität öffentlicher und
ethischer Glaubenssätze, so Sen, der dabei die gleiche Idee wie Rawls
unterstreicht (Sen, 2009, 73). Wenn wir nun aber die Gültigkeit des moralischen
Gefühls dem deliberativen Urteil überantworten, kommen wir vom Anderen zum Wir,
so dass wir die Unrechtserfahrung des Anderen letztlich unserer Entscheidung
unterwerfen. Am Ende stellt sich heraus, dass die Erfahrung des Unrechs oder
das moralische Gefühl der Entrüstung reine Auslöser der Reflexion über
Gerechtigkeit sind, aber ohne jegliches theoretisches Gewicht. Und dies sowohl
bei Rawls, Habermas und eben Sen. Selbstverständlich gibt es da noch ein
ungelöstes Problem: Als unerlässlich erweist sich irgendeine Form von Kontrolle
über das moralische Gefühl, um nicht dem Betrug der Gefühle zu verfallen. Aber
diese Kontrolle kann nicht auf Kosten des Gefühls geschehen.
Die Herausforderung des ursprünglichen Irrtums
besteht folglich weiter. Die realen, aber unzureichenden Vorstöße von internen
Kritikern des Liberalismus wie Amartya Sen und die offenen Enden der von mir
angesprochenen anderen kritischen Traditionen ermuntern dazu, so etwas wie eine
Abhandlung der Ungerechtigkeit in
Angriff zu nehmen. Die Ausgangshypothese lautet, dass die Tatsache und
theoretische Bedeutung der Ungerechtigkeit ernst genommen werden müssen. Diese
Tatsache ernst nehmen heißt, in ihr den Auslöser für die Reflexion über die
Bedeutung der Gerechtigkeit zu sehen. Das Unrecht steht sowohl in historischer
wie logischer Hinsicht an erster Stelle. Historisch, weil es einfach ist sich
vorzustellen, dass die Gerechtigkeit erst dann die Bühne betritt, als der
Konflikt bzw. das Unrecht bereits statt gefunden haben. Es ist dagegen schwierig,
sich als Ursprung der Gerechtigkeit eine Sitzung in Platons Akademie vorzustellen.
Die erste Erscheinung der Gerechtigkeit muss wohl ein „Dazu gibt es kein Recht!“
als Reaktion auf irgendein Unrecht gewesen sein; die Entrüstung angesichts
eines klaren Falls von Unrecht. Diese Unrechtserfahrung war zuerst da, und erst
danach kam die Ausarbeitung seiner Bedeutung.
Gegen jeden Menschenverstand hat der spekulative Ansatz
bisher dominiert; daher die Natürlichkeit, mit der wir behaupten, man könne nur
von Unrecht sprechen, wenn vorher bekannt ist, was Gerechtigkeit ist. Aber was
ist dann mit jenem spontanen „Dazu gibt es kein Recht!“? Ich glaube nicht, dass
irgendjemand auf den Gedanken kommen könnte, dieser Schreie wolle zu verstehen
geben, dass gerade Paragraph X des Strafgesetzbuches verletzt werde. Vielmehr
wird hier verkündet, dass es kein Recht gibt, weil gerade ein Unrecht verübt
wird. Das ist der Ausgangspunkt. Aber ich denke nicht, dass eine Art
realistischer Logik uns dazu bringt anzunehmen, dass wir zuallererst eine
Vorstellung von Gerechtigkeit haben. Die Abwehr des Primats der Ungerechtigkeit
wurzelt in jenem diffusen Idealismus, der die Philosophie „von den Ionikern bis
Jena“ durchtränkt und die theoretische Bedeutung der Ungerechtigkeit nicht
akzeptieren kann. Dass die Theorie sich dem Wesen der Dinge widmet, wird als
gegeben hingenommen. Nun ist das Unrecht aber gegenüber der Gerechtigkeit etwas
Willkürliches, und über die Willkür, so Aristoteles, gibt es keine Theorie.
Dies erklärt den Gestus so vieler Denker, die bei ihren Überlegungen über die
Gerechtigkeit beim Unrecht beginnen, es dann aber schnell vergessen, wenn sie
zum Punkt kommen, weil sie blind in ihre spekulativen Fähigkeiten vertrauen, um
zu entscheiden, was gerecht oder ungerecht ist.
Die Entscheidung für eine neue Konzeptualisierung
der Gerechtigkeit heißt aber gerade das: den semantischen Kern der
Ungerechtigkeit anzuerkennen und von dort aus über die Gerechtigkeit zu
sprechen. Das Geheimnis der theoretischen Bedeutung der Ungerechtigkeit liegt
im Gedächtnis; daher der strategische Wert dieser Kategorie. Ohne Gedächtnis
verliert das Unrecht seine Aktualität und was noch schwerwiegender ist, es hört
auf zu sein. Es ist das Gedächtnis, Anwalt der Aktualität des Unrechts, das
letzten Endes zu verstehen erlaubt, was es von der Ungleichheit unterscheidet.
Innerhalb der Jahrtausende alten Reflexionen über die Gerechtigkeit ist eine Abhandlung
über die Ungerechtigkeit ein Wagnis. Wir sind so überzeugt davon, dass die Idee
der Gerechtigkeit an erster Stelle steht und erst danach ihre Anwendung auf
ungerechte Situationen folgt, dass eine Umkehrung dieser logischen Ordnung
beinahe einem Attentat auf die Vernunft gleichkommt.
Die zentrale Relevanz der Erfahrung von Unrecht
ist nur haltbar, wenn die Aktualität des Unrechts unabhängig von der seither
vergangenen Zeit oder der Zuständigkeit des Urhebers dieses Unrechts erklärbar
ist. Möglich ist dies nur dank dem Gedächtnis, so dass hier auch die volle
Bedeutung dieser Kategorie aufscheint: als Kapital nicht nur um seine
Gültigkeit zu bestätigen, sondern auch, um die Universalität der Gerechtigkeit
zu wahren. Es ist das Gedächtnis, das alles Unrecht aufruft und das
Benjaminsche Desiderat, dass nichts verloren gehen möge, erst ermöglicht.
Reyes Mate, (Übersetzung von Linda
Maeding)
(Publicado en la revista alemana Paragrama. Internazionale
Zeitschrift für Historische Anthropologie (Berlin), Bd 20, 2011, Heft 2, 199-216, ISSN
0938-0116)
Fußnoten
(1) F. Bacon,
2006, De la Justice universelle: Essai d'un traité sur la justice
universelle, Paris, 1824,
réédition L'Harmattan, 2006, S. 27.
(2) Aristoteles,
Nikomachische Ethik, V, 1 (1129b25).
(3) Ebd., (1130a5). Vgl. P. Ricœur, Le Juste, Paris, Editions
Esprit, 1995, S. 9
(4) Thomas von
Aquin, Summa Theologiae, II-IIae, S. 58.
(5) Vgl. D.
Bensaïd, Les dépossédés. Karl Marx, les voleurs de bois et le droit des
pauvres, Paris, La Fabrique Editions, 2007.
(6) F. Villoro,
Los retos de la sociedad por venir, México, FCE, 2007, S. 15.
(7) Ebd., S. 16.
(8) J.F. Lyotard,
Le Différend, Paris, Les Editions de Minuit, 1983, S. 24-25.
(9) Das 1983
verfasste Buch trägt noch Spuren des militanten Lyotards aus „Sozialismus und
Barbarei“ in sich. Bei einem Vergleich dieses Textes mit den späteren wird
deutlich, dass Lyotard den Klassenkampf nun zum „litige“ herabgesetzt hat;
einen Ort, wie er sagt, „des petits conflits“, vgl. J.F. Lyotard, „Devant la
loi, après la loi“, Interview in E. Weber, Questions au judaïsme, Paris,
Desclée De Brouwer, 1996, S. 209.
(10) E. Lévinas, „Franz Rosenzweig une pensée juive moderne“, Revue de Théologie et Philosophie 98 (4), 1964, S. 1.
(11) Hegels
Thesen stammen aus seiner Philosophie der Geschichte , Nr. 325 y 327.
(12) Vgl. F. Rosenzweig, Der Stern der
Erlösung, hg. von Albert Raffelt, Freiburg im Breisgau,
Universitätsbibliothek, 2002 [1921].
(13) „Wird
jene erste Funktion der Gewalt die rechtssetzende, so darf diese zweite die rechtserhaltende
genannt werden",Walter Benjamín in „Zur Kritik der Gewalt“, vgl. GS II/1,
S. 186-187.
(14) Vgl. F.
Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum „Stern der
Erlösung“, in: Der Morgen 1, Heft 4, 1925.
(15) Sen äußert sich in seinem Werk Idea de
la justicia, 2009,Taurus, Madrid (Die Idee der Gerechtigkeit, München,
C.H. Beck, 2010,skeptisch über Rawls’ These der im Urzustand erfolgten einzigen
Wahl eines Ensembles an Grundsätzen, die nötig sind für die gerechten
Institutionen einer gerechten Gesellschaft.
(16) Sen
zufolge sollten kontingente Vorteile und zufällige Einflüsse aus der
Vergangenheit kein Einverständnis verletzen, das auf Grundsätzen zur
Regulierung der Institutionen jetzt und in Zukunft basiert. Der historische
(wenn nicht natürliche) Ursprung der Ungleichheiten wird auf Kontingenzen und
Zufälle herabgesetzt, die scheinbar nichts mit der Freiheit im Ursprung und der
Verantwortung a posteriori zu tun haben