21/5/15

Gerechtigkeit als Antwort auf das Gefühl von Unrecht

Abstract
Moderne Gerechtigkeitstheorien stellen sich in ihrem Ursprung als Antwort auf die bestehenden Ungleichheiten dar. Auffällig ist dabei, dass dieser erste Impuls sich auflöst, sobald die Philosophen mit der Erarbeitung von Theorien beginnen. Es scheint, als ob die ungerechte Wirklichkeit nur der Motivation dient, aber jegliches relevanten Inhalts für die theoretische Reflexion entbehrt. Ist eine Vorstellung von Gerechtigkeit möglich, die in ihrer theoretischen Elaborierung dem Initialmoment des empfundenen Unrechts treu bleibt, und die das Gefühl der Empörung nicht aus den Augen verliert? Sie ist möglich, sofern wir zwischen Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden wissen, sofern wir die anamnetische Vernunft anrufen und die Theorie der Gerechtigkeit als eine Abhandlung der Ungerechtigkeit verstehen.
  
Der italienische Jurist Gustavo Zagrebelsky unterscheidet in seinem kurzen, aber substanzreichen Parcours durch die Gerechtigkeitstheorien in La domanda de guistuzia zwei mögliche Ansätze: einen spekulativen und einen  erfahrenes Verfahren. Ersterer abstrahiert von der Erfahrung, um die nötige Universalität jeglichen Begriffs von Gerechtigkeit zu wahren. Eine ihres Namens würdige Gerechtigkeitstheorie muss demnach auf abstrakter Ebene definieren, was gerecht ist, um daraufhin das Ungerechte zu behandeln. Das „erfahrene Verfahren“ hingegen geht von der Erfahrung des Unrechts aus. Die Gerechtigkeit wird auf die eine oder andere Weise eine Antwort auf das Unrecht sein.

Verwiesen sei darauf, dass im Okzident das abstrakte Verfahren überwogen hat. Bei Platon beispielsweise ist die Gerechtigkeit ein Eidos, dem menschlichen Wissen vorgängig, das als Orientierung dient, um über das Unrecht dieser Welt zu urteilen. Bei Aristoteles ist die Gerechtigkeit eine aus der menschlichen Natur hervorgehende Tugend, deren Auftrag ihre Vervollkommnung ist. Für die Moderne ist die Gerechtigkeit Resultat eines deliberativen Prozesses, dessen Ziel es ist, das Gerechte zu bestimmen.

Diese weit zurückreichende Art der Betrachtung wurde bereits von Franz Rosenzweig („von Jonien bis Jena“, sagte er) als idealistisch bezeichnet. Ihr unterliegt die Vorstellung, dass „die Wirklichkeit zu denken“ gleichbedeutend ist mit „sich zu denken“. Die Gefahr ist dabei nicht nur, die Wirklichkeit zu verkennen, sondern dass der Idealismus potenziell totalitär ist. Tatsächlich hat die Wirklichkeit für den Idealismus nur einen Wert, insofern sie erkennbar ist, das heißt als Brennstoff für das Wissen.

Das Erkennbare an der Wirklichkeit, was wirklich für das Wissen zählt, ist nicht die Gesamtheit der Wirklichkeit, sondern ein Teil, den wir Essenz nennen. Das Wesentliche der Dinge ist, was wert ist, gekannt zu werden. Die Operation, ein Element aus der reichen Wirklichkeit auszuwählen und ihm die Kategorie des Wesentlichen zu verleihen, impliziert allerdings die Missachtung aller anderen Elemente, die nun nur noch als „Unfälle“ gelten. Rosenzweig zufolge handelt es sich dabei um einen totalitären Vorgang, denn wenn wir zu sagen beginnen „alles ist Wasser“, wie Thales von Milet, so enden wir eines Tages dort - wie tatsächlich passiert - , wo einer mit derselben Logik sagt „alles ist Rasse“.

Kürzlich hat sich auch der renommierte Nobelpreis für Ökonomie Amartya Sen den Kritikern der spekulativen Gerechtigkeitsidee mit seinem Buch The Idea of Justice angeschlossen. Seiner Grundthese zufolge kann nur ein erfahrungsbasierter Zugriff auf diese Idee Geltung beanspruchen. Eine Theorie der Gerechtigkeit hat eine bescheidene Antwort auf das Unrecht zu sein.

Wenn dem so ist, muss der Ursprung der Gerechtigkeit in dem empörten Schrei „Dazu gibt es kein Recht!“ verortet werden, das heißt, im Gefühl der Empörung gegenüber dem bestehenden Unrecht. Wie bereits Adam Smith sagte gibt nicht die Vernunft den ersten Impuls in Richtung Gerechtigkeit, sondern „die Sinne und die Gefühle“. Die Rede ist von moralischen Gefühlen, also unmittelbaren Reaktionen auf das Unrecht, die sich nicht in sich selbst erschöpfen, sondern die zur Reflexion einladen und a posteriori reflektiert werden können.

Diese Auffassung soll nun im Einzelnen dargelegt werden. Zunächst werde ich versuchen zu erklären, dass es im Verhandeln des Ausgangspunktes (spekulative oder experientielle Methode) darum geht, die Ungleichheiten als Ungerechtigkeiten charakterisieren zu können oder nicht. Es ist nicht dasselbe, die sozialen Unterschiede zum Beispiel als Ungleichheiten oder aber als Ungerechtigkeiten zu beschreiben. Wenn es nur Ungleichheiten gibt, reicht eine distributive Gerechtigkeit aus; wenn es Ungerechtigkeiten sind, ist eine universelle Gerechtigkeit sowohl aus räumlicher Sicht (globale Gerechtigkeit) wie aus zeitlicher Sicht (anamnetische Gerechtigkeit) unerlässlich. An zweiter Stelle möchte ich zeigen, dass die Konsequenz einer spekulativen Auffassung die Invisibilisierung der Opfer ist, und damit dem Gefühl der Empörung jegliche theoretische Bedeutung entzieht. Abschließend ist darzulegen, dass die These vom Primat des moralischen Gefühls in der Behandlung der Gerechtigkeit nicht so sehr zu einer neuen Gerechtigkeitstheorie als zu einer Abhandlung über die Ungerechtigkeit führt.

1.     Der ursprüngliche Irrtum
Diese Abhandlung oder Behandlung der Ungerechtigkeit nähert sich der Gerechtigkeit, indem sie den Erfahrungen von materieller Misere oder moralischer Demütigung Gehör schenkt, als ob sich das Geheimnis der Gerechtigkeit im Leiden dieser Erfahrungen verbergen würde.

Niemand zweifelt daran, dass die Gerechtigkeit eines der wichtigen Themen unserer Zeit bezeichnet. In Wahrheit ist sie das immer gewesen, denn die Gerechtigkeit begleitet die Menschheit wie ein konstanter Zeitgenosse. Der Mensch verabschiedet sich von der Animalität, aus der er stammt, als die rohe Kraft des Einen, der sich gegenüber den Anderen behauptet, ersetzt wird durch die Macht der Gemeinschaft, in der alle gleich sind. „Aut lex aut vis valet“. Daher behauptet Freud, dass sich Kultur und Gerechtigkeit im selben Moment ereignen. Die Gerechtigkeit ist da, im Aufgang menschlichen Lebens, gar bevor moralische Anliegen aufzutreten beginnen.

Die Wichtigkeit des Themas erklärt den Aufruf-Effekt, den sie auf die Philosophie, die Wissenschaft oder das politische Recht ausübt. Die einschlägigen Schriften mehren sich exponentiell zum Verlauf der Zeit. Wieso also dem noch etwas hinzufügen, wenn doch alles schon gesagt ist? Der Rekurs auf den Kommentar oder die Scholastik ist immer möglich. Doch hätte ich diesen Beitrag gar nicht begonnen, wenn es nur darum ginge, Kommentare zu kommentieren oder darüber zu spekulieren, was die großen Namen schon gesagt haben. Diesem Abenteuer liegt vielmehr die Intuition oder das Unbehagen an einem ursprünglichen Irrtum zugrunde, der heute die Gerechtigkeitstheorien untergräbt und darin besteht, Ungerechtigkeit mit Ungleichheit zu verwechseln. Die Ungleichheit handelt von sozialen Differenzen, die da sind und das moderne moralische Bewusstsein angehen, weil es niemand verdient, arm zu sein oder in einer Gesellschaft mit einer unterdurchschnittlichen Lebenserwartung zu leben oder der nötigen Mittel zu entbehren, um alle in einem angelegten Talente zu entfalten.

Die Ungerechtigkeit fügt der Ungleichkeit die Frage der Schuld oder auch Verantwortung hinzu. Dies selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass der Arme Schuld an seiner Armut trägt. Die Schuld bezieht sich vielmehr auf den Ursprung der Ungleichheit. Das Unrecht existiert nicht einfach wie Flüsse oder Gebirge, Produkte des Zufalls, sondern wurde verursacht und/oder ererbt vom Menschen. Deshalb ist das Unrecht bei dem, der es produziert, an das Merkmal der Schuld gebunden; und bei dem, der es erbt, an die Verantwortung. Es versteht sich von selbst, dass auch ein Element des Zufalls  mit in die Ungleichheiten hineinspielt, aber das Beunruhigende an den Theorien der Gerechtigkeit ist, dass sie die Voluntarität an diesen Ungleichheiten nicht bedenken; das heißt sie nehmen die Ungerechtigkeit nicht wirklich ernst. Jede Überlegung über die Gerechtigkeit ist ein Streifzug durch die Sphären der Humanität des Menschen. Francis Bacon beginnt seine Überlegung im Entwurf eines Tractatus de Justitia Universali mit dem Ausspruch „in Societate Civili, aut Lex, aut Vis valet“: In der Zivilgesellschaft herrscht entweder die Gerechtigkeit des Gesetzes oder die Ungerechtigkeit der Macht. Die Gewalt der Ungerechtigkeit vermag sich entweder brutal oder im Lammsfell verborgen, das heißt in Gesetzesform, präsentieren.(1) Deshalb tritt die Gerechtigkeit erst am Ende eines Todeskampfes wie jener zwischen Jakob und dem Engel in Erscheinung; und ebenso wie im genannten Fall geht die siegreiche Gerechtigkeit hinkend aus ihm hervor. Zwischen Gerechtigkeit und Menschheit besteht eine tiefe Verbindung, genauso wie zwischen Ungerechtigkeit und Barbarei. Dies ist die angesprochene Intuition, auf der die hier dargelegte Behandlung der Gerechtigkeit beruht.
 
Man kann nicht einfach außer Betracht lassen, dass der ursprüngliche Irrtum, die Ungerechtigkeit mit reiner Ungleichheit zu verwechseln, keine angemessene Aufmerksamkeit erfahren hat. Um dies zu erklären, hilft uns möglicherweise die Überlegung, die Benjamin bezüglich des Verbrechens anführt. Ihm zufolge gibt es um diesen einzigartigen Akt zwei Tode: den physischen, der offensichtlich ist, und den hermeneutischen, der im Verborgenen bleibt. Der Verbrecher tötet nicht nur, sondern er ruht auch nicht, bis diesem Tod jegliche moralische Bedeutung entzogen ist. In den Vernichtungslagern zum Beispiel wurde diese hermeneutische Strategie von den Nazis praktiziert, indem die Opfer enthumanisiert wurden, als ob sie der menschlichen Gattung nicht angehören würden. Aber soweit muss man gar nicht gehen: Da ist der große Hegel der Geschichtsphilosophie, der sich fragt, weshalb der Mensch Geschichte stets so macht, dass er sie in ein Schlachthaus verwandelt. Die Antwort, die er darauf gibt, ist selbst das beste Beispiel der hermeneutischen Invisibilisierung. In der Tat, so Hegel, muss die Menschheit einige Blümchen am Wegesrand zertreten, um voranzuschreiten. Indem er die Opfer zum unausweichlichen Preis des Fortschritts macht, begeht der Philosoph das hermeneutische Verbrechen, mit dem er die Geschichte freispricht und die Kontinuität der historischen Perversität garantiert. Was hier über Verbrecher gesagt wird, lässt sich auch auf die Akteure des Unrechts übertragen. Die Akteure oder Vererber des Unrechts haben Erklärungen für ihre Taten, die sie freisprechen sollen. Die raffinierteste Form dieser Strategie ist die Umwandlung von Unrecht in Ungleichheit. Nicht nur die Akteure des Verbrechens haben sich für diese Arbeit der Invisibilisierung der Ungerechtigkeit verwandt. Die westliche Kultur hat ebenfalls einen großzügigen Beitrag geleistet. Ich habe gerade auf die Philosophie der Geschichte Bezug genommen; man könnte nun bei der Kunst anknüpfen: den Bildern von Berruguete etwa, die Folteropfer der Inquisition mit lächelndem Gesicht zeigen, als ob sie damit Torquemada Recht gäben, der sich erlaubte „die Leiber zu töten um die Seelen zu retten“. Wir könnten mit der Ilias fortsetzen, die die Kriegswunden wie Kunstwerke beschreibt, oder jener Literatur, die den Krieg als privilegierten Ort preist, an dem die großen Tugenden des Menschen offengelegt werden. Manche Denker, wie Rosenzweig oder Levinas, gehen noch weiter und entdecken im griechischen logos eine Neigung zur Rechtfertigung der Gewalt, indem die Erfahrungen von Leiden und Scheitern zur Subkategorie der Unfälle degradiert werden und nur das für wesentlich erachtet wird, was nicht stirbt und stets triumphiert.

All diese Strategien der Invisibilisierung der Opfer der Geschichte wiegen schwer in der Verheimlichung des ursprünglichen Irrtums. Daher gilt: Wenn wir auf diesem Gefälle nicht weiter gehen wollen, muss die Rückkehr zum Ursprung der Gerechtigkeit initiiert werden. Dieser ist ein abolitionistischer Begriff, was nichts anderes bedeutet, als dass seine Daseinsberechtigung nicht etwa darin besteht, den Geist zu erhellen, sondern seinem Gegenteil ein Ende zu machen, der Ungerechtigkeit. Der Ursprung der Gerechtigkeit ist die Erfahrung von Unrecht.

Das war bereits in der Antike so. Aristoteles verband die Moral als exemplarischer Vertreter griechischer Philosoph mit der Tugendhaftigkeit. Als sein Lehrer Platon ihn fragt, ob es schwerwiegender sei, Schaden zuzufügen als ihn zu erleiden, antwortet er mit ihm, dass ersteres schlimmer sei, denn indem wir anderen Schaden zufügen, fügen wir ihn auch uns selbst zu: Dies ist das schlimmste Übel, weil die Glückseligkeit daran gebunden ist, gut zu sein. Alle aristotelischen Tugenden streben an, die eigene Vervollkommnung zu erreichen - alle bis auf die Gerechtigkeit, die das Wohl des Anderen zum Ziel hat. Genau das macht sie so einzigartig. In der Nikomachischen Ethik verkündet Aristoteles, die Gerechtigkeit sei die wichtigste Tugend. In einem poetischen Anlauf schreibt er, sie sei so schön „dass nicht der Abend- und nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt“(2). Ihre Größe kommt daher, dass sie nicht auf das eigene Wohl bedacht ist, sondern sich für die Anderen aufopfert. Und das sagt viel aus, denn so wie es kein schlimmeres Subjekt gibt als jenes, das Anderen Schaden zufügt, gebe es keinen besseren Menschen als jenen, „der seine Tugend nicht sowohl sich als anderen zugute kommen lässt“, so Aristoteles.(3) Das ist wohlbekannt und Teil unserer Kultur. Sich selbst und den Freunden wohl zu tun ist gut – in Maßen; aber vortrefflich ist es, gut zu den Anderen, oder wie das Christentum es mit einer extravaganten Geste will, gut „zu den Feinden“ zu sein. Aber Aristoteles will sich nicht von solch heroischer Prosa hinreißen lassen, weshalb er nach dem leisen Hinweis auf die Bedeutsamkeit einer Tugend, die das Wohl der Anderen sucht, im Modus einer Warnung schreibt: „Denn dieses ist ein schweres Ding“. Tugendhaft zu sein ist niemals einfach, aber gerecht zu sein ist wahrhaft schwierig. Bedenkt man, von wem der Bescheid kommt, dann ist ihm umso mehr zu danken, weil er nicht nur aufzeigt, wie schwierig es ist Gerechtigkeit zu praktizieren, sondern auch, sie zu denken. Bei Aristoteles wird die Gerechtigkeit mit einer Reihe an Merkmalen ausgestattet, die später großen Umlauf haben sollten. Sie ist an erster Stelle materialistisch, weil das Gerechte seine Substanz darin hat, den zugefügten Schaden wiedergutzumachen, und nicht darin - wie noch der Fall sein wird - zu entscheiden, was gerecht ist. Entscheidend ist zweitens der Andere und was man diesem Anderen schuldig ist, nicht, wie ebenfalls der Fall sein wird, das Wir, der von uns gefällte Beschluss. Selbstverständlich – und das von Anfang an – ist die Gerechtigkeit eine Tugend, und das heisst, dass sie auf Taten eines Menschen bezogen ist, der auf sehr eigene Weise in ein bereits bestehendes Netz oder auch in die Natur integriert ist, da „das Ganze und der Teil auf irgendeine Weise dasselbe sind“.  Das Ganze oder Gemeinwohl, dem der Teil, der jeder von uns ist, sich verdankt, ist weder die Gesellschaft noch der Staat, sondern die Art und Weise, sich mit Anderen in Beziehung zu setzen. Jedes Individuum ist wie der Teil eines auseinandergebrochenen Kruges, der sein Gegenstück sucht, um wieder ganz zu sein. Die Tugend ist undenkbar ohne die Natur, und diese ist ebenfalls nichts ohne die Taten, die zu ihrer Realisierung führen, indem sie sich von ihr inspirieren lassen.

Die Gerechtigkeit ist so schwer zu denken, dass das Denken selbst dazu tendiert, sich dabei Fallen zu stellen. Man muss nur jene Aufzeichnungen betrachten, in denen die Logik der Gerechtigkeit zu sehr fordernden Schlussfolgerungen führt. Diese hatten nur eine kurze Laufzeit im akademischen Bewusstsein und wurden rasch in freundlicheren und erträglicheren Formen wiederverwertet. Im Laufe des hier gemeinten Werkes werden sehr volltönende Fälle angeführt, aber um die Dinge zu beschleunigen, geben wir hier nur ein Beispiel. Ich beziehe mich auf Werk und Begriff der „allgemeinen Gerechtigkeit“ bei Thomas von Aquin. Wenn wir heute von „der“ Gerechtigkeit sprechen, denken wir an soziale Gerechtigkeit. Die soziale Gerechtigkeit ist vor allem eine distributive Gerechtigkeit, an der es unserer Welt so fehlt. Nun denkt aber Thomas von Aquin nicht an die Verteilung der Gerechtigkeit, wenn er die von Aristoteles gemeinte Größe der Gerechtigkeit erklären will, sondern an die Konstruktion des Gemeinwohls. Die Gerechtigkeit ist eine spezielle und höhere Tugend, weil sie die gemeinschaftliche oder politische Dimension tugendhaften Handelns betrifft: Bevor wir also von der ungleichen Aufteilung des Reichtums sprechen, muss die Ungerechtigkeit erwähnt werden, nicht zur Schaffung des Gemeinwohls beizutragen - dies passiert, wenn die Gemeinschaft ihrer Ressourcen beraubt wird oder keine Bemühungen um die Entwicklung der Anderen erfolgen. Kurioserweise ist diese „allgemeine Gerechtigkeit“  von der Landkarte verschwunden, als ob die Gerechtigkeit nur mit der Verteilung des Gemeinwohls und nicht mit seiner Erzeugung zu tun hätte.(4) Es ist in der Tat nicht dasselbe, die Gerechtigkeit als gerechte Distribution gemeiner Güter zu verstehen, oder als eingeforderten Beitrag aller zur Schaffung eben dieser Güter.

Diese Auffassung ändert sich radikal in der Moderne. Die gerade erst eroberte Autonomie des Subjekts toleriert keine so schlagenden Konditionierungen wie in den Inhalten von Begriffen wie Natur oder Gemeinwohl enthalten, die der antiken Theorie der Tugenden als Rahmen dienen.

Es ist das Subjekt, welches auf Basis seiner Autonomie entscheidet, was gut und gerecht ist. Das moderne Subjekt deklariert sich zuständig für die Konstruktion von Moral und Politik, ohne andere Bedingungen denn seine Freiheit. Das bedeutet nicht, dass gut oder gerecht ist, was und wie es ihm gerade passt. Die freie Entscheidung erreicht erst dann die Ebene des Gerechten, wenn Autonomie sich mit Universalität verbindet, wenn also das, was ich für mich als gerecht betrachte, dies auch für die Anderen ist. Diese Auffassung hat gerade deshalb tönerne Füsse, weil sie in der Präsenz der Universalität wurzelt. Solange ich es bin, der im Namen aller denkt, was gut ist und was nicht, ist sie schwerlich ernst du nehmen. Daher gibt es immer wieder Versuche, eine Universalität zu denken, die mit Autonomie zu versöhnen ist. Die mögliche Lösung, auf die der Neukantianer Hermann Cohen abzielt, und die später von John Rawls und Jürgen Habermas perfektioniert wird, besteht darin, die Entscheidung zu kollektivieren: Entscheiden sollen bei Rawls alle Betroffenen, oder die ganze Menschheit, bei Habermas! Damit die Deliberation nicht zu einem unkoordinierten Konzert unzähliger Stimmen gerät, müssen alle so unvoreingenommen wie möglich entscheiden, das heißt von ihren Interessen oder Erfahrungen abstrahieren. Da ein solcher Verzicht aber undenkbar ist, solange es Leben gibt, erfinden die genannten Autoren ein Experiment, bei dem die Menschen in der Fiktion auf etwas verzichten, auf das sie in der Wirklichkeit gar nicht verzichten könnten. Aus diesem Experiment würden als Konsens die Grundsätze der Gerechtigkeit (im Falle Rawls’) bzw. eine rationale Form der Debatte hervorgehen, die dem vernünftigsten und damit dem von allen meist akzeptierten Argument Recht geben würde (im Falle Habermas’). Die Visitenkarte dieser neuen Gerechtigkeitstheoretiker basiert sich auf unserem Leben in einer pluralen und deutlich komplexer gewordenen Gesellschaft. An Stelle jener gemeinen Kultur, die von Natur oder Gemeinwohl sprach, befinden wir uns in einer Gesellschaft, deren Epizentrum die Autonomie des Subjekts ist, und damit eine Pluralität an Weltanschauungen und Projekten des „richtigen“ Lebens, die zunächst einmal respektiert und anerkannt werden müssen. Dies betrifft die Gerechtigkeit deshalb, weil das an die Idee der Gleichheit gebundene Gerechte eine den genannten Differenzen übergeordnete Ebene finden muss. Diese höhere Ebene ist die Vorgehensweise, Beschlüsse zu treffen. Auf ihr können wir uns einigen oder, noch besser, auf ihr könnten wir uns ein Verfahren vorstellen, dass das besagte Einverständnis ermöglicht.

Niemandem kann entgehen, dass diese Art der Behandlung der Gerechtigkeit wenig oder nichts mit jener der Antike zu tun hat: Erstens wird hier die Betonung auf die Freiheit gelegt und nicht auf das Brot, so dass das Gerechte mit der Möglichkeit assoziiert wird, gleichberechtigt freie und unabhängige Beschlüsse zu treffen, und nicht mit der Wiedergutmachung zugefügten Schadens. Zweitens wird der Andere durch das Wir ersetzt, so dass die Gerechtigkeit an Stelle einer Antwort auf die Frage dessen, der das Unrecht erlitten hat, mit dem kollektiven Beschluss als Kriterium des Gerechten verknüpft wird. Auch ist eine Verschiebung der Achse der Gerechtigkeit zu beobachten: von der Schaffung von Gemeinwohl zu dessen Aufteilung, das heißt der Begriff allgemeiner Gerechtigkeit verschwindet zugunsten der distributiven Gerechtigkeit. Wie man sehen kann muss für dieses neue Produkt ein hoher Preis gezahlt werden, den die immense Mehrheit ihrer Anhänger in bar begleicht, überzeugt davon, dass die strikten Forderungen der antiken Gerechtigkeit nicht mehr als eine Fußnote verdienen.

Die sogenannten Verfahrenstheorien hatten immensen Erfolg. Jahrzehntelang konnte man ob in Berlín oder Barranquilla, im Dschungel von Lacandona oder in Madrid, dieselbe Musik hören, geschrieben von denselben Autoren und gespielt von Philosophen, Soziologen oder Politologen jeglicher Couleur und Kondition. Um die Hegemonie dieser Gerechtigkeitstheorien zu besiegeln, bringen ihre Sprecher eine klärende Unterscheidung zwischen dem Gerechten und dem Guten vor. Der Terminus gerecht vereinnahmt alle Gesichtspunkte der modernen Gerechtigkeitstheorie, da er sich als Verkörperung einer Vorstellung von Gerechtigkeit präsentiert, die für jedes Vernunftwesen unabhängig von seinen Interessen oder kulturellen Traditionen annehmbar ist. Die mit dem Stempel des Gerechten gekennzeichneten Theorien sollen auf Prinzipien basieren, die jeder unterschreiben könnte, sofern es darum geht, nicht die eigenen Interessen zu beurteilen, sondern die von jedwedem, und dies dabei aus tiefster Überzeugung geschieht. Gerecht zu sein ist gleichbedeutend mit Unvoreingenommenheit und Universalität, wie sie auf der Höhe unserer pluralen Gesellschaften sind. Zweifellos ist unsere Gesellschaft plural hinsichtlich der Vorstellung, die sich jeder von Gerechtigkeit macht: Für die einen bedeutet es, dem Koran zu folgen, für die anderen, dem Nazarener. Es gibt in diesen Fällen keine unanfechtbare Definition dessen, was gerecht ist. Sie ist abhängig von der Vorstellung der Welt, innerhalb derer sie geäußert wird. Daher stimmt das Gerechte in einer vom Klassenkampf geprägten Weltsicht nicht überein mit dem, was aus einer anderen, etwa aus einer nationalistisch oder ethnizistisch gefärbten Weltsicht heraus dafür gehalten wird. Für Gerechtigkeitsdiskurse, die die Armut des Armen berücksichtigen, ist Stehlen um zu essen kein Delikt, während es hier für das bürgerliche Recht keine Entschuldigung gibt.(5) Die Frage ist also: Wie können Doktrinen mit universellem Gültigkeitsanspruch, die sich untereinander frontal gegenüberstehen, koexistieren und gemeinsame Spielregeln finden, die einerseits die unterschiedlichen Versionen des für gerecht Gehaltenen der Einen wie der Anderen gewährleisten, und die sich andererseits aber die Entscheidung darüber aneignen, was gerecht sein soll? Die Antwort liegt in der Unterscheidung zwischem dem Guten und dem Gerechten, indem man im Guten die Partikularansichten über Gerechtigkeit verortet und im Gerechten die gemeinsamen Regeln. Im modernen Haus des Gerechten haben alle Konzeptionen des Guten Platz, obwohl sich unter der bescheidenen Rubrik des Guten einst so erfolgreiche Gerechtigkeitstheorien wie die aristotelische oder die thomistische verbergen.

             2. Vae Victis.
Dennoch hat es auch nicht an kritischen Stimmen gefehlt, die ausgehend von anderen Traditionen versuchten, die deliberative oder Verfahrenshegemonie mit gewichtigen Argumenten zu bekämpfen.

a) Luis Villoro zum Beispiel, vielleicht der bedeutendste spanischsprachige politische Philosoph der Gegenwart, kontrastiert zwei zeitgenössische Ansätze des Gerechtigkeitsbegriffs. Auf der einen Seiten einen Theorietypus, der „von der Idee eines rationalen Konsenses unter gleichberechtigten Subjekten auszugehen pflegt, die sich in Beziehung zueinander setzen, um die Wesenszüge einer wohlgeordneten Demokratie zu reproduzieren“(6);  und auf der anderen Seite einen Theorietypus, der „anstatt von einem Konsens zur Fundierung der Gerechtigkeit auszugehen, von dessen Abwesenheit ausgeht, und anstatt von der Bestimmung universeller Gerechtigkeitsgrundsätze zu ihrer Verwirklichung in einer spezifischen Gesellschaft zu schreiten, von der Wahrnehmung realen Unrechts ausgeht, um zu überlegen, wie dieses behoben werden könnte“(7).

Zwei Arten, sich der Gerechtigkeit zu nähern: als rationalem Konsens oder als Antwort auf Unrecht. Wir befinden uns nicht vor unterschiedlichen Tellern, von denen sich jeder willkürlich bedienen kann, sondern vor verorteten Theorien, das heißt vor Fragestellungen, die spezifischen historischen Kontexten angehören. Die Gerechtigkeit als rationaler Konsens wäre den entwickelten Gesellschaften eigen, die als inakzeptabl empfundene Schwellen des Elends überwunden und despotische Formen der Herrschaft abgeschüttelt haben. Nicht umsonst haben diese Theorien des Konsenses ihren Ursprung im reichen Westen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die Welt endet hier nicht. Dieser entwickelte Westen koexistiert mit Gesellschaften in Entwicklung, innerhalb wie außerhalb desselben, in denen eine extreme und wachsende soziale Ungleichheit herrscht. Der Ausschluss großer Menschenmassen vom ökonomischen Profit und die Ausgrenzung von politischen Beschlüssen ist in ihnen vorherrschend. Das Nachdenken über die Gerechtigkeit kann in diesem Kontext nicht im Zeichen des Konsenses geschehen, da die sozialen und politischen Voraussetzungen für eine gemeinsame Sprache fehlen, sondern nur als stumme Mahnung ausgehend von der Erfahrung des Unrechts. Wer Unrecht erfährt, entwirft keine Konsense, sondern fordert Antworten.

b) Jean-François Lyotard seinerseits verweigert sich jener Art von Experimenten, deren Realisierbarkeit davon abhängt, von den uns betreffenden Konflikten zu abstrahieren. Die Gerechtigkeit ist ebenso wie das Recht undenkbar ohne den Konflikt; von ihr wird erwartet, dass sie jedem das Seine zu geben weiß. Nun muss man aber – und hier liegt der markanteste Aspekt von Lyotards Beitrag – zwischen zwei Arten von Konflikten unterscheiden, die radikal verschieden sind: dem Rechtsstreit und dem „différend“. Die Rede ist vom Rechtsstreit, wenn angesichts eines ein Unrecht aufwerfenden Konflikts eine gemeinsame Sprache zwischen den beteiligten Parteien besteht, akzeptierte Regeln, die es erlauben, dem Anderen einen Fehler zur Last zu legen und diesem, sich zu verteidigen. Es handelt sich dabei um intrasystemische Konflikte. Den Terminus „différend“ behält sich der Autor für jene Konflikte vor, in denen der Unrecht Erleidende der Mittel entbehrt, sich durchzusetzen, und damit auf den Zustand des Opfers zurückgesetzt wird. Dies geschieht, wenn das Reglement des Konflikts, das beide opponiert, in der Sprache einer der Parteien abgefasst wurde und es damit dem Schaden, den der Andere erleidet, in dieser reglementierten Sprache an Bedeutsamkeit mangelt(8).

Im Falle eines „différend“ ist keine Vermittlung zwischen den Parteien möglich, denn was für eine von Bedeutung ist, ist bedeutungslos für die andere. Da die Bedeutungen von der dominanten Partei mit universellem Gültigkeitsanspruch etabliert werden, könnte es scheinen, als ob das solcherart von dieser als gerecht oder gesetzt Etablierte für alle nachvollziehbar ist. Aber die Stummheit der Opfer darf nicht mit der von den Herrschenden eingerichteten Bedeutungshegemonie oder der vorherrschenden Bedeutung verwechselt werden. Ein klarer Fall solcher Verwirrung kann in der sozialen Wahrnehmung der Sklaverei beobachtet werden. Deren Bewertung in der zivilisierten Welt – die Abscheu, die uns dieses langlebige historische Phänomen einflößt – wurde von den Abolitionisten durchgesetzt, also von jenen unter uns, die anstatt die Familientradition des Sklavenhandels weiterzuführen, gegen sie rebelliert haben, sie angeprangert und bekämpft haben bis zu ihrer Abschaffung. Aber dieser verdienstvolle Diskurs verbirgt das Wesentliche, nämlich die Bewertung der Sklaverei durch die Sklaven selbst. Zwischen der Erfahrung des Sklaven und den abolitionistischen Praktiken verläuft ein Abgrund, ein „différend“, da beide nicht miteinander verbundene Sprachen sprechen, denn nur die des Abolitionisten gilt, die aber als Sprache die gleiche wie die der Befürworter des Sklavenhandels ist.

Lyotard nennt Auschwitz und den Klassenkampf als Konfliktfälle im Zeichen eines „différend“. Auschwitz ist ein klares Beispiel des Undenkbaren, und das heißt des Abstandes zwischen dem Denkbaren und dem Stattgefundenen. Dieses Ereignis wurde nicht gedacht, weil es undenkbar war: Die aus der Geschichte der (Un-) Menschlichkeit bekannten Typen des Bösen erfassen es alle nicht. Dennoch hat es stattgefunden. Dieser Abgrund zwischen dem Undenkbaren und dem Stattgefundenen, dem Ereignis, stellt das Denken vor eine riesige Herausforderung, die es sich zu eigen machen muss, will es nicht zu einer unbedeutenden Tätigkeit verkommen. Das Prestige des logos hängt davon ab, wie es auf diese Herausforderung antwortet. Der andere Fall bezieht sich auf den Klassenkampf, auf die Tatsache einer Gesellschaft - der bürgerlichen - die das Monopol der Sprache hat und den Arbeiter in seinen Konflikten mit dem Kapital zwingt, sich genau dieses Instrumentes zu bedienen oder im Abseits zu bleiben. Das Kapital sagt ihm, er sei ein freies Wesen, das seine Arbeitskraft nach freiem Willen verleiht. Was ihm davon ausgehend geschieht, mag ihm mehr oder weniger gefallen, aber es war von ihm gewollt. Der Arbeiter findet keinen Weg verständlich zu machen, dass er arbeitet um zu leben und lebt um zu arbeiten. Juristisch gesehen ist seine Situation nicht die des Sklavens, in materieller Hinsicht sehr wohl. Das bürgerliche Sprachmonopol erlaubt dem Arbeiter aufgrund eines uneinholbaren „différend“(9) zwischem ihm und dem Kapitalisten nicht, sich auf eigene Weise auszudrücken. Aus Lyotards Theorie lässt sich ableiten, dass es Formen der Ungerechtigkeit gibt, die eine konsensuelle Antwort zulassen, weil sie in einer gemeinsamen Sprache verbalisiert werden, und andere, die keine Antwort haben, weil ihre Maßstäbe inkommensurabel sind. In diesem Fall kann die Antwort auf das Undenkbare, das stattgefunden hat, nicht aus der Ordnung des Konsenses oder Verstehens stammen, sondern es muss akzeptiert werden, dass dieses Undenkbare, das stattgefunden hat, gerade das ist, was zu denken gibt.

c)Auch gibt es Ansätze, die ohne direkt gegen die Befürworter des Konsenses oder des Diskurses zu polemisieren, die Singularität auf eine Weise hervorheben, die jegliche auf Abstrahierung von dem durch das Subjekt Erlebten und Erlittenen gestützte Theorie für nichtig erklären. Diese Reklamierung des Singulären wurde in der Polemik mit philosophischen Ansätzen gestärkt, die die Geschichte zum Weltgericht erklären. Ein treuer Exponent ist Enmanuel Levinas, für den „Judesein nicht so sehr darin besteht, an Moses und die Propheten zu glauben, als das Recht zu reklamieren, über die Geschichte zu urteilen, also den Platz eines sich bedingungslos behauptenden Gewissens zu reklamieren“(10). Entweder ist die Geschichte das Höchste Gericht der Gerechtigkeit, oder es ist das Gewissen des Einzelnen. Im ersten Fall urteilt die Geschichte über das behauptete Unrecht, das die Individuen bedrückt; im zweiten Fall ist es das vom Einzelnen erlittene Unrecht, das über Sinn oder Unsinn der großen Geschichte urteilt. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Fokussierungen der Gerechtigkeit, eine von Athen inspiriert, die andere von Jerusalem. Ein guter Vertreter der an Athen orientierten Denkweise ist Hegel. Von Schelling übernimmt er die These von der „Weltgeschichte als Weltgericht“. Der Sinn dessen, was jedem Individuum geschieht, ist Angelegenheit der Weltgeschichte. In dem Überblick, den Hegel von den Wegen des Menschen durch die Welt gibt, beobachtet er mit Entsetzen, dass dieser die Geschichte in eine große Schlachtbank verwandelt habe, und fragt sich nach dem Endzweck des vielen Leidens. Seine Benommenheit dauert nicht länger als einen Augenblick, bis er eine beruhigende Erklärung findet: Das Opfer (des Individuums) trägt in substantieller Beziehung zum Zusammenhalt aller bei. Und weiter: Die wahre Courage eines zivilisierten Volkes bestehe darin, für das Opfer des Staatsdienstes bereit zu sein, so dass das Individuum nur eines unter vielen darstelle. Nicht der persönliche Mut sei entscheidend, sondern die Unterordnung unter das Universelle.(11). Das Opfer des Einzelnen wird hier mit den Anforderungen des Drehbuchs erklärt. Im Wohle aller gewinnt die individuelle Tragödie an Bedeutung. Das Ganze stirbt nicht. Die individuelle Negativität gewinnt im universellen Wohl seinen Sinn. Nietzsche schreitet denselben Weg ab, indem er erklärt, dass die Schönheit des Naturbildes Leiden und Freude benötigt. So empfiehlt er, zwischen Dionysos und Christus zu wählen, das Leiden entweder als Teil der Landschaft zu betrachten oder als Skandal. Er selbst tendierte zu den Bacchanalien.

Die westliche Politikwissenschaft ist Hegel gefolgt, allerdings unter dem Vorbehalt, lieber vom Staat oder Staaten zu sprechen anstatt von etwas so Nebulösem wie der Weltgeschichte. Der Staat ist bekanntlich ein großes Thema in der westlichen Philosophie, die ihn als wichtigste politische Erfindung schätzt und ihn deshalb mit dem Titel einer „ethischen Totalität“ auszeichnet. Dank dieser moralischen Autorität rechtfertigt der Staat das Opfer der Individuen und die Gewalt gegen andere Staaten. Für die Tradition, aus der Levinas oder Rosenzweig hervorgehen, sieht die Bewertung hingegen anders aus. Die Politik schmiedet im Staat unweigerlich Allianzen mit der Gewalt. Tatsächlich gibt es keinen Staat ohne Recht, und dieses verwandelt einen Moment aus dem Leben eines Volkes in Norm. Wo ist da die Gewalt? Im Anhalten und Rückstellen der Zeit, der ihr eigenes Dahinfließen versagt wird. Die Eigenart des Gesetzes ist es, einen Moment zu verabsolutieren aus dem Fluß des Lebens eines Volkes, in dem die Bräuche sich ständig entwickeln und die Gesetze sich verändern, so Rosenzweig.(12). Das Leben eines Volkes ist konstante Innovation seiner Bräuche und Gesetze, aber das Recht macht aus einem Augenblick der Zeit zeitlose Norm. Benjamin baute diese Idee weiter aus, in der Annahme, dass das Recht auf Gewalt gründe und sich dank dieser halte.(13)

Der Staat impliziert folglich ein Attentat auf die lebendige Zeit einer Gesellschaft, die nun paralysiert wird. Wer aber von dieser Gewalt erreicht wird, ist das Individuum in seiner Singularität. Ein Attentat also gegen die Zeit und den Anderen: Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Denken besteht Rosenzweig zufolge darin, den Anderen zu benötigen und, was dasselbe ist, die Zeit ernst zu nehmen.(14) Die tote oder paralysierte Zeit des Staates bedeutet die Negierung des Anderen, weil nur die lebendige Zeit die Idee der Neuheit in sich trägt. Man kann von Zeit sprechen, wenn die Zukunft nicht nur mehr des immer Gleichen ist, also Wiederholung, ewige Wiederkehr des Gleichen. Wer nun aber die Zeit aus ihrer Benommenheit reißt, ist die Präsenz des Anderen, die das Kontinuum der Zeit unterbricht. Wenn der Andere uns fragt: wo bist du?, beginnt Geschichte und endet die Natur, weil der Gefragte sich seiner Situation bewusst wird und Subjekt seines Schicksals sein will.

Und welchen Bezng hat all dies zur Gerechtigkeit? Für Rosenzweig ist das Urteil der Geschichte über den Einzelnen ungerecht, weil es das konkrete Unrecht dem Interesse des Ganzen – nennen wir es Staat, Geschichte oder Menschheit – unterordnet. Die Geschichte als Gericht hat nur Augen für die Sieger. Vae Victis! Die Reklamierung des Einzelnen impliziert nicht, auf die Forderungen nach Universalität der Gerechtigkeit zu verzichten, aber es handelt sich um eine Universalität, die auf Kosten des vom Einzelnen erfahrenen Unrechts weder gedacht noch realisiert werden kann, denn wenn dies geschieht, wird die Gerechtigkeit zur Rechtfertigung einer Geschichte, die triumphierend über Opfer hinweg schreitet.

            3. Primat des Gefühls von Unrecht
Die Mahnung bei Luis Villoro, das „différend“ bei Lyotard oder der Einzelne bei Rosenzweig sind Figuren des Widerstands gegen die Hegemonie des Konsenses oder des Diskurses. Es ist jedoch zwingend anzuerkennen, dass der Angriff auf die Festung der modernen Verfahrenstheorien der Gerechtigkeit aus den eigenen Reihen kommt. Es handelt sich, so kann man sagen, um durch „freundliches Feuer“ produzierte Verluste. Der Nobelpreis für Ökonomie, Amartya Sen, verwendet sich in einem John Rawls gewidmeten Buch mit beneidenswertem Eifer darauf, die Säulen zu sprengen, auf denen das Prestige des Autors der Theorie der Gerechtigkeit beruht.

Er beklagt von Anfang an die Unmöglichkeit und Nutzlosigkeit einer „transzendentalen“ Theorie der Gerechtigkeit wie der von Rawls; ausgerichtet darauf, einen reinen Gerechtigkeitsbegriff zu elaborieren, der als Orientierung für politische Institutionen dienen könnte. Sen ist es darum getan, Gründe zu finden, die uns gegen das Unrecht dieser Welt mobilisieren. Von stärker operativer Ausrichtung als die mögliche „Lösung“ oder einzige Erklärung dessen, was Gerechtigkeit ist, ist das bescheidene Eingeständnis, dass es verschiedene Gründe geben kann um beispielweise den Krieg zu bekämpfen. Hierfür führt er den Fall der Opposition gegen den Irak-Krieg an. Viele Gründe wurden im Kontext der Aussprache gegen den Krieg genannt (wenig oder schlechte Information, keine Beweise für Massenvernichtungswaffen, fehlendes UNO-Mandat, etc.), und alle waren gültig. Sen empfindet sich wie Rawls als Erbe der Aufklärung, aber beruft sich auf eine andere Tradition: anstelle des sich auf der Suche nach dem reinen Begriff des Gerechten befindenden Kontraktualismus von Rousseau und Kant, die von Adam Smith und Stuart Mill ausgehende Linie, die die Welt weniger unvollkommen machen will.

Indem Sen die „einzige Lösung“ der Theorie Rawls’ anprangert, verweist er auch auf die Obsession um den „begründeten Konsens“, auf dessen Basis die (zwei) Grundsätze der Gerechtigkeitstheorie entschieden werden. Sen zweifelt an dieser Möglichkeit, das heißt er zweifelt an, dass das Experiment, dem Rawls uns unterzieht, diese Resultate hervorbringen könnte.(15) Sen denkt im Einklang mit den Annahmen seiner „Theorie der sozialen Wahl“ (Sen, 2009,125), dass die Dinge auf andere Weise funktionieren. Zur Erklärung führt er das Beispiel dreier Kinder an, die sich um eine Flöte streiten. Anna will sie behalten, weil sie sie zu spielen weiß; Bob, weil er arm ist und keine anderen Spielzeuge besitzt; Carla, weil sie sie selbst gemacht hat. Drei unterschiedliche, solide Gründe, die man keinesfalls auf einen reduzieren könnte: Annas Grund ist für den Utilitarismus ein gerechter Grund; ebenso wie Bobs für den Egalitaristen oder Carlas für den Kommunisten. Jeder hat einen Grund, der innerhalb seiner ideologischen Welt gerecht ist. Rawls’ Erfindung funktioniert also nicht (Sen, 2009, 47).

Mit einer anderen Reihe an Argumenten kritisiert er den Platz, den bei Rawls die Institution einnimmt. Wenn die erste Figur der Gerechtigkeit bei Aristoteles der gerechte Mensch war, ist sie dort die Institution. Wichtig ist das gerechte Funktionieren der Verwaltung. Rawls gesteht den individuellen Verhaltensweisen so wenig Bedeutung zu, weil er naiverweise glaubt, dass wenn die Institutionen korrekt funktionieren, dies auch die Individuen gelten wird. Die am Experiment beteiligten Individuen scheinen demnach ihr Verhalten außerhalb desselben auf mechanische Weise mit den dort beschlossenen Grundsätzen der Gerechtigkeit rückzukoppeln (Sen, 2009, 90). Für Sen aber sind die Individuen im Kampf gegen das Unrecht fundamental. Ihm ist wichtig, ihre moralische Fragilität, ihre physische und mentale Kapazität und ihr Eingebundensein in Entscheidungen mit einzubeziehen, um ihren Grad an Verantwortung zu messen.

Auch Rawls’ Provinzialismus entkommt seiner Kritik nicht. Die Grundsätze der Gerechtigkeit nach Rawls gelten für die Teilnehmenden am Experiment, die ja nicht alle sind. Das Experiment, und das bedeutet die Deliberationen im Urzustand, konzentriert sich auf jene Beteiligten, die „in der Gesellschaft geboren sind, in der sie leben“ (Sen, 2009, 156), das heißt sie reduzieren sich auf den Staat, in dem man lebt. Wenn das Experiment eine Fiktion ist, die nie realisiert werden kann, wieso sollte man es aber nicht auf die Gesamtheit der Nationen oder die menschliche Gattung ausweiten? Der angestrebte Konsens wäre nicht in Gefahr, da alle Teilnehmer bereits an der Schwelle zu diesem utopischen Ort ihre Differenzen hinsichtlich Erfahrungen oder Weltanschauungen, die zum Scheitern des Experiments führen könnten, ablegen müssten.

Sens Schlussfolgerung lässt keinen Zweifel: Die Frage nach der gerechten Gesellschaft sei kein guter Ausgangspunkt für eine brauchbare Gerechtigkeitstheorie. Auch sei sie möglicherweise kein gutes Ankunftsziel (Sen, 2009,135).

Die Kritikpunkte von Amartya Sen sind, da sie – wie van Parijs sagen würde – aus den Reihen des Liberalismus stammen, gegen die Strömungsrichtung der kontraktualistischen Tradition lancierte Torpedos, aber lösen sie den ursprünglichen Irrtum, das heißt verstehen sie die Ungleichheiten als Ungerechtigkeiten? Obwohl es durchaus Vorstöße gibt, scheint dies nicht der Fall zu sein. Angesichts des unantastbaren Primats der Freiheit bei Rawls fragt sich Sen, „wieso sollten wir Hunger, Unterernährung oder fehlende medizinische Versorgung als weniger wichtig betrachten denn die Verletzung jeglicher Form der persönlichen Freiheit?“ (Sen, 2009, 94). Er setzt das tägliche Brot auf derselben Ebene wie die Freiheit an. Damit nun aber die materiellen Ungleichheiten wie Ungerechtigkeiten behandelt werden können, ist nach ihrem Ursprung zu fahnden, so dass man, wie Rousseau es tat, zurückgehen müsste zum Ursprung der Ungleichheit. Die Überraschung fällt alles andere als klein aus. Der Kritiker des „Schleiers des Nichtwissens“ aus dem Rawls’schen Experiments, überzeugt von der vitalen Relevanz von Elends- und Unrechtserfahrungen für seine Vorstellung von Gerechtigkeit, lässt dennoch zu, dass wir wegschauen, wenn es um den Ursprung der Ungleichheiten geht. Es stimmt zwar, dass Sen im Unterschied zu Rawls offen von Ungerechtigkeiten spricht, doch nimmt er sie letztlich nicht ernst, da er es kurioserweise vermeidet, nach ihrem Ursprung zu fragen. Ganz im Gegenteil: An einer Schlüsselstelle seines Diskurses macht er sich Rawls’ Vorschlag zu eigen, im Namen der Unvoreingenommenheit zu verzichen auf aus der Vergangenheit stammende kontingente Vorteile und zufällige Einflüsse.(16) Der unmittelbare Kontext dieser Einladung zum Vergessen der Vergangenheit mag im freundlichen Licht erscheinen, da sie an die Reichsten und Mächtigsten gerichtet ist. Ihnen wird nahe gelegt, aus ihrem Vorteil keinen Profit zu schlagen. Aber wer diesen Vorschlag  bezahlt, ist das Opfer, von dem verlangt wird, das ihm Angetane zu vergessen. Wenn der Verzicht der Reichen, von ihrer Situation zu profitieren, als großzügige Tugend angesehen wird, so deshalb, weil an keiner Stelle Reichtum mit Ungerechtigkeit assoziiert wird. Die Vergangenheit muss daher im Abseits bleiben. Praktisch gesehen bleibt es sich gleich, den Ursprung der bestehenden Ungleichheiten für ein Produkt des Zufalls zu halten (Rawls’ Theorie), oder sich erst gar nicht nach der Vergangenheit zu befragen. Von Bedeutung ist nur die sich als unabwendbar darstellende Gegenwart. Da wäre es zu empfehlen, das Beispiel des Quijote zu beachten, der als herumirrender Ritter im Laufe seiner lebenslangen Suche nach einem Schatten von Fortuna seinem Begleiter Sancho schließlich gesteht, dass es kein Glück gebe in der Welt. Jeder ist selbst seines Glückes Schmied.  Die Freiheit kann nicht zum Schlussstein der liberalen Gerechtigkeitstheorien aufgebaut werden, wenn nicht zugleich das Gewicht der Freiheit in der Konstruktion der historischen Ungleichheiten bedacht wird.

Es haftet etwas Paradoxes am Freiheitsverständnis der Liberalen. Einerseits ist es das erste Prinzip, um das sich im Urzustand ein Konsens herausschält. Nicht eine einzige Maßnahme zur Bekämpfung des Unrechts darf auch nur die geringste Einschränkung des Gebrauchs der Freiheit bedeuten. Gerade deshalb fällt auf, dass keine detaillierte Untersuchung des Gebrauchs oder der Geschichte dieser Freiheit erfolgt. Es stimmt, dass um sie gekämpft, für sie gelitten und gestorben wurde; aber in ihrem Namen wurden auch viele Gewalttaten begangen. Wie Rousseau richtig erkennt, hat der Ursprung der Ungleichheiten seine tiefste Wurzel in der Freiheit. Wieso sollte man diese Tatsache nicht anerkennen; und dies nicht um sie zu diskreditieren, sondern um ihre Konsequenzen anzunehmen? Indem er seine theoretische Strategie auf das Verhalten der Individuen und nicht mehr der Verwaltungsmaßstäbe ausrichtet, ist Sen zwar wirklich gezwungen, das Thema der Verantwortung aufzuwerfen; aber es handelt sich um eine Verantwortung, die zur Seite und nach vorne schaut, nicht jedoch nach hinten. Wie andere moderne Theoretiker der Gerechtigkeit zuckt er angesichts des - vergangenen, ja, aber doch weiter vererbten - Unrechts mit den Schultern. Für Sen spricht seine feste Entschlossenheit, das moralische Gefühl der Entrüstung oder des Mitleids als Auslöser seiner Vorstellung von Gerechtigkeit zu betrachten. Dies bezeugt der bevorzugte Platz, den Adam Smith in seinem Werk einnimmt. Die erste Wahrnehmung des Gerechten und Ungerechten, so Smith, könne nicht Gegenstand der Vernunft, wohl aber der Sinne und Gefühle sein. Natürlich müssen diese Gefühle das Sieb der Vernunft passieren, um die gerade auf solch vitale Gefühle lauernden Fallen zu vermeiden. Es kann sich trotz Kant nicht um die individuelle Vernunft handeln, sondern nur um die deliberative und damit kollektive Vernunft. Öffentliches Argumentieren konstituiert eine wesentliche Charakteristik der Objektivität öffentlicher und ethischer Glaubenssätze, so Sen, der dabei die gleiche Idee wie Rawls unterstreicht (Sen, 2009, 73). Wenn wir nun aber die Gültigkeit des moralischen Gefühls dem deliberativen Urteil überantworten, kommen wir vom Anderen zum Wir, so dass wir die Unrechtserfahrung des Anderen letztlich unserer Entscheidung unterwerfen. Am Ende stellt sich heraus, dass die Erfahrung des Unrechs oder das moralische Gefühl der Entrüstung reine Auslöser der Reflexion über Gerechtigkeit sind, aber ohne jegliches theoretisches Gewicht. Und dies sowohl bei Rawls, Habermas und eben Sen. Selbstverständlich gibt es da noch ein ungelöstes Problem: Als unerlässlich erweist sich irgendeine Form von Kontrolle über das moralische Gefühl, um nicht dem Betrug der Gefühle zu verfallen. Aber diese Kontrolle kann nicht auf Kosten des Gefühls geschehen.

Die Herausforderung des ursprünglichen Irrtums besteht folglich weiter. Die realen, aber unzureichenden Vorstöße von internen Kritikern des Liberalismus wie Amartya Sen und die offenen Enden der von mir angesprochenen anderen kritischen Traditionen ermuntern dazu, so etwas wie eine Abhandlung der Ungerechtigkeit in Angriff zu nehmen. Die Ausgangshypothese lautet, dass die Tatsache und theoretische Bedeutung der Ungerechtigkeit ernst genommen werden müssen. Diese Tatsache ernst nehmen heißt, in ihr den Auslöser für die Reflexion über die Bedeutung der Gerechtigkeit zu sehen. Das Unrecht steht sowohl in historischer wie logischer Hinsicht an erster Stelle. Historisch, weil es einfach ist sich vorzustellen, dass die Gerechtigkeit erst dann die Bühne betritt, als der Konflikt bzw. das Unrecht bereits statt gefunden haben. Es ist dagegen schwierig, sich als Ursprung der Gerechtigkeit eine Sitzung in Platons Akademie vorzustellen. Die erste Erscheinung der Gerechtigkeit muss wohl ein „Dazu gibt es kein Recht!“ als Reaktion auf irgendein Unrecht gewesen sein; die Entrüstung angesichts eines klaren Falls von Unrecht. Diese Unrechtserfahrung war zuerst da, und erst danach kam die Ausarbeitung seiner Bedeutung.

Gegen jeden Menschenverstand hat der spekulative Ansatz bisher dominiert; daher die Natürlichkeit, mit der wir behaupten, man könne nur von Unrecht sprechen, wenn vorher bekannt ist, was Gerechtigkeit ist. Aber was ist dann mit jenem spontanen „Dazu gibt es kein Recht!“? Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf den Gedanken kommen könnte, dieser Schreie wolle zu verstehen geben, dass gerade Paragraph X des Strafgesetzbuches verletzt werde. Vielmehr wird hier verkündet, dass es kein Recht gibt, weil gerade ein Unrecht verübt wird. Das ist der Ausgangspunkt. Aber ich denke nicht, dass eine Art realistischer Logik uns dazu bringt anzunehmen, dass wir zuallererst eine Vorstellung von Gerechtigkeit haben. Die Abwehr des Primats der Ungerechtigkeit wurzelt in jenem diffusen Idealismus, der die Philosophie „von den Ionikern bis Jena“ durchtränkt und die theoretische Bedeutung der Ungerechtigkeit nicht akzeptieren kann. Dass die Theorie sich dem Wesen der Dinge widmet, wird als gegeben hingenommen. Nun ist das Unrecht aber gegenüber der Gerechtigkeit etwas Willkürliches, und über die Willkür, so Aristoteles, gibt es keine Theorie. Dies erklärt den Gestus so vieler Denker, die bei ihren Überlegungen über die Gerechtigkeit beim Unrecht beginnen, es dann aber schnell vergessen, wenn sie zum Punkt kommen, weil sie blind in ihre spekulativen Fähigkeiten vertrauen, um zu entscheiden, was gerecht oder ungerecht ist.

Die Entscheidung für eine neue Konzeptualisierung der Gerechtigkeit heißt aber gerade das: den semantischen Kern der Ungerechtigkeit anzuerkennen und von dort aus über die Gerechtigkeit zu sprechen. Das Geheimnis der theoretischen Bedeutung der Ungerechtigkeit liegt im Gedächtnis; daher der strategische Wert dieser Kategorie. Ohne Gedächtnis verliert das Unrecht seine Aktualität und was noch schwerwiegender ist, es hört auf zu sein. Es ist das Gedächtnis, Anwalt der Aktualität des Unrechts, das letzten Endes zu verstehen erlaubt, was es von der Ungleichheit unterscheidet. Innerhalb der Jahrtausende alten Reflexionen über die Gerechtigkeit ist eine Abhandlung über die Ungerechtigkeit ein Wagnis. Wir sind so überzeugt davon, dass die Idee der Gerechtigkeit an erster Stelle steht und erst danach ihre Anwendung auf ungerechte Situationen folgt, dass eine Umkehrung dieser logischen Ordnung beinahe einem Attentat auf die Vernunft gleichkommt.

Die zentrale Relevanz der Erfahrung von Unrecht ist nur haltbar, wenn die Aktualität des Unrechts unabhängig von der seither vergangenen Zeit oder der Zuständigkeit des Urhebers dieses Unrechts erklärbar ist. Möglich ist dies nur dank dem Gedächtnis, so dass hier auch die volle Bedeutung dieser Kategorie aufscheint: als Kapital nicht nur um seine Gültigkeit zu bestätigen, sondern auch, um die Universalität der Gerechtigkeit zu wahren. Es ist das Gedächtnis, das alles Unrecht aufruft und das Benjaminsche Desiderat, dass nichts verloren gehen möge, erst ermöglicht.

Reyes Mate, (Übersetzung von Linda Maeding)
(Publicado en la revista alemana Paragrama. Internazionale Zeitschrift für Historische Anthropologie (Berlin), Bd 20, 2011, Heft 2, 199-216, ISSN 0938-0116)

Fußnoten
(1) F. Bacon, 2006, De la Justice universelle: Essai d'un traité sur la justice universelle, Paris, 1824, réédition L'Harmattan, 2006, S. 27.
(2) Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 1 (1129b25).
(3) Ebd., (1130a5). Vgl. P. Ricœur, Le Juste, Paris, Editions Esprit, 1995, S. 9
(4) Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-IIae, S. 58.
(5) Vgl. D. Bensaïd, Les dépossédés. Karl Marx, les voleurs de bois et le droit des pauvres, Paris, La Fabrique Editions, 2007.
(6) F. Villoro, Los retos de la sociedad por venir, México, FCE, 2007, S. 15.
(7) Ebd., S. 16.
(8) J.F. Lyotard, Le Différend, Paris, Les Editions de Minuit, 1983, S. 24-25.
(9) Das 1983 verfasste Buch trägt noch Spuren des militanten Lyotards aus „Sozialismus und Barbarei“ in sich. Bei einem Vergleich dieses Textes mit den späteren wird deutlich, dass Lyotard den Klassenkampf nun zum „litige“ herabgesetzt hat; einen Ort, wie er sagt, „des petits conflits“, vgl. J.F. Lyotard, „Devant la loi, après la loi“, Interview in E. Weber, Questions au judaïsme, Paris, Desclée De Brouwer, 1996, S. 209.
(10) E. Lévinas, Franz Rosenzweig une pensée juive moderne, Revue de Théologie et Philosophie 98 (4), 1964, S. 1.
(11) Hegels Thesen stammen aus seiner Philosophie der Geschichte , Nr. 325 y 327.
(12) Vgl. F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, hg. von Albert Raffelt, Freiburg im Breisgau, Universitätsbibliothek, 2002 [1921].
(13) „Wird jene erste Funktion der Gewalt die rechtssetzende, so darf diese zweite die rechtserhaltende genannt werden",Walter Benjamín in „Zur Kritik der Gewalt“, vgl. GS II/1, S. 186-187.
(14) Vgl. F. Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum „Stern der Erlösung“, in: Der Morgen 1, Heft 4, 1925.
(15) Sen äußert sich in seinem Werk Idea de la justicia, 2009,Taurus, Madrid (Die Idee der Gerechtigkeit, München, C.H. Beck, 2010,skeptisch über Rawls’ These der im Urzustand erfolgten einzigen Wahl eines Ensembles an Grundsätzen, die nötig sind für die gerechten Institutionen einer gerechten Gesellschaft.
(16) Sen zufolge sollten kontingente Vorteile und zufällige Einflüsse aus der Vergangenheit kein Einverständnis verletzen, das auf Grundsätzen zur Regulierung der Institutionen jetzt und in Zukunft basiert. Der historische (wenn nicht natürliche) Ursprung der Ungleichheiten wird auf Kontingenzen und Zufälle herabgesetzt, die scheinbar nichts mit der Freiheit im Ursprung und der Verantwortung a posteriori zu tun haben